
Menschen Das Leben Studieren
Das Leben Studieren
Interview mit Chef-Analyst Volker Hellmeyer
CHAPEAU: Wenn ich lese, die Analysten sehen Tesla hier, Bayer dort, oder die XY AG verfehlt die Erwartungen – dann ist von Menschen wie Ihnen die Rede?
Folker Hellmeyer: Das ist richtig. In der Analyse kümmern wir uns um unterschiedliche Bereiche. Ich bin fokussiert auf volkswirtschaftliche Analyse, auf politische Analyse, auf Märkte insgesamt, beispielsweise den deutschen Leitindex DAX. Dann gibt es Analysten, die sich um Einzelwerte kümmern, die also betriebswirtschaftliche Analysen vornehmen. Es ist ein sehr, sehr weites Feld, das im Bereich der Analyse bearbeitet wird. Es ist sicherlich die Königsdisziplin, die volkswirtschaftliche Entwicklung richtig zu prognostizieren, weil daran ja auch der Erfolg der Unternehmen hängt.
Wie wird man Analyst? Was studiert man, was haben Sie studiert?
Am besten studiert man das Leben. Das sage ich mit der Berufserfahrung von 35 Jahren. Sinnvoll ist sicherlich ein Studium, das mit Wirtschaft zusammenhängt, zum Beispiel ein betriebswirtschaftliches oder volkswirtschaftliches Studium. Aber für mich ist Erfahrung wichtiger, sich mit den Märkten auseinanderzusetzen, zu erkennen, dass viele Theoreme, die im Studium gelehrt werden, eben nur Theorie sind, dass die Praxis anders aussieht. Als Grundlage ist darüber hinaus eine kaufmännische Ausbildung gut. Ebenso ist in der Persönlichkeit ein Hang zum Kaufmännischen hilfreich. Ich darf zu meiner Person sagen, dass ich diese Karriere so nicht geplant habe. Ich startete als Devisenhändler, alles Weitere hat sich aus meinem persönlichen Interesse heraus entwickelt und wurde von früheren Vorgesetzten gefördert.
Haben Sie als Analyst, als berufsmäßiger „Besserwisser“, ein Vermögen in Aktien? Oder sind Sie eher wie der Bundesliga-Kommentator zu betrachten, der ja auch nicht selbst im Tor steht?
Wenn man im Analysesektor tätig ist, dann ist man natürlich auch selbst in diesem Sektor mit seinen privaten Anlagen tätig. Man muss aber als Analyst zurückhaltend sein. Denn in dem Moment, in dem man sich selbst mit zu großen Positionen an den Märkten „belastet“, wird das Urteil, das man über diese Märkte bildet, durch diese Eigenpositionierung nicht notwendigerweise besser. Das heißt, man muss in der Eigenanlage so vorgehen, dass es nicht zu einer emotionalen Beeinträchtigung des Urteils kommt. Das ist der entscheidende Punkt. Aber ich sage ganz deutlich: Wenn man sich im Finanzmarkt bewegt, dann nutzt man auch für sich selbst die Opportunitäten, die sich daraus ergeben.
Haben Sie als Chef-Analyst Ihr Karriereziel erreicht?
(Lacht.) Ja und nein. Ich freue mich, dass ich seit 20 Jahren Chefanalyst bin. Früher Helaba, jetzt hier in Bremen. Es ist eine tolle Funktion, insbesondere da ich das Glück habe, dass mir meine Arbeitgeber den Freiraum zur Entfaltung gaben und geben. Es gibt keine Vorgaben etwa politischer Natur, die mich im Urteil einschränken. Insofern gilt, dass das Karriereziel grundsätzlich erreicht ist. Wenn man mit einer Situation zufrieden ist, dann gilt es, sie vollständig auszufüllen. Das erfordert latentes Engagement und auch Demut, für immer neue Lernkurven bereit zu sein. Auf dem Weg können dann auch neue Ziele und Herausforderungen liegen. So habe ich jetzt neue Aufgaben im aktiven Management des sehr erfolgreichen BLB Global Opportunity Fund. Wer weiß, was noch auf mich zukommt.
Macht Sie das stolz? Oder war es selbstverständlich, dass Sie einmal Chef-Analyst sein werden?
„Stolz“ wäre der vollkommen falsche Ausdruck. Wenn man in seinem Leben das Glück hat, dass der Beruf nicht Pflicht, sondern Kür ist, dann muss man mit Demut herangehen. Ich tue das. Ich habe in meinem Leben sehr viel Glück gehabt, auch dass ich vor gut 20 Jahren in Frankfurt in diese Position hineingewachsen bin, und dass die Talente seitens des Arbeitgebers gefördert wurden … Stolz ist daher der falsche Ausdruck. Demut trifft es: eine Chance bekommen und diese dann genutzt zu haben.
Ein Leben mit Reisen um die Welt, Quartalszahlen, Termindruck – geht das nur ohne Familie? Oder nur mit?
Der Job ist in der Tat sehr zeitintensiv, man ist viel unterwegs. Darüber hinaus beschäftigt man sich mit vielen Themen, die einen auch im Privaten nicht gleich loslassen. Ich habe keinen Job, den man nach acht, zehn, zwölf Stunden ablegt. Da geht es um eine Grundeinstellung. Ich kann nur eines sagen: Meine Frau ist ein ganz wesentlicher Anker meines Erfolgs. Sie gibt mir alle Möglichkeiten und hat auf viel verzichtet, sie hält mir den Rücken frei, sie stärkt mich, mein Berufsleben so zu gestalten, wie ich es gestalte. Insofern sage ich, eine intakte Familie ist unverzichtbar als Balance, um diesen Beruf in dieser Form dauerhaft machen zu können.
Ich weiß, dass Sie singen. Ist das Selbstdarstellung, frei nach dem Motto „Seht mal, was ich noch kann“, also verwehrter Berufswunsch, oder einfach eine Leidenschaft?
(Lacht.) Als kleiner Junge wollte ich mal Schlagersänger werden. Von daher ist das mit dem verwehrten Berufswunsch vielleicht nicht vollständig neben der Spur … Aber eigentlich ist es ein Stück Lebensfreude. Ich bin vorbelastet, denn mein Vater hat den Lotsenchor in Hamburg mitbegründet und war ein super Sänger. Mir bringt es einfach Spaß, Leute auch ein wenig aus der täglichen Lethargie zu holen. Es liegt mir, und ich mache es einfach gerne. Es ist für meine Profession sehr, sehr unüblich, aber mich stört es nicht. Und wenn es meine Kunden und Gäste nicht stört – und das ist wohl überwiegend so, glaube ich –, dann ist es eine feine Sache. Der entscheidende Punkt ist die Lebensfreude. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die singen, einfach bessere Zeitgenossen sind als diejenigen, die nicht singen (lacht).
Wir sind in einer Gesellschaft, die sich dynamisch entwickelt. Da ist das Infragestellen elementar.
Rockabilly ist Ihre bevorzugte Stilrichtung. Weil es „halbstark“ war, zwei Jahrzehnte für Auflehnung, für Rebellion stand?
Ein Stück weit ja. Sicherlich. Aber ich mag den Sound, ich mag den Drive, der dahintersteht. Wir haben in dieser Welt in weiten Teilen zu viel Lethargie. Geistige Lethargie. Und für mich steht diese Musik, Rockabilly, eigentlich für eine Umbruchphase. Sich Neuem zuzuwenden, Dinge in Frage zu stellen. Wir sind in einer Gesellschaft, die sich dynamisch entwickelt, einer Ökonomie, die sich dynamisch entwickelt, und da ist das Infragestellen elementar. Das ist übrigens auch etwas, das ich selbst in diesem Beruf machen muss. Wenn man glaubt, dass man nach einer erfolgreichen Analyse-Periode jetzt den Stein der Weisen gefunden hat, dann irrt man sich. Da sich alles latent verändert, braucht man immer wieder diese Demut, zu sagen: Guck dir die Dinge genau an, guck dir die Parameter genau an, was verändert sich hier, was verändert sich dort? Insoweit passt das mit Rockabilly ganz gut, dass man sich diese Veränderungen immer wieder vergegenwärtigt. Das ist in dieser Musik in großen Teilen zu finden.
Angesichts der Fusion mit dem größeren Haus (Fusion mit der Nord LB, Anm. d. Red.), fühlen Sie sich als Bremer Banker einer Bremer Bank belächelt?
Die letzten 15 Jahre habe ich – losgelöst von den Problemen, die wir gerade in der letzten Zeit mit der Schifffahrt hatten – genossen, weil wir in diesem Geschäftsmodell der Bremer Landesbank mit den Kunden einen Marathon auf Augenhöhe gelaufen sind. Und das deckt sich komplett mit meinem grundsätzlichen Verständnis des Bankgeschäfts. Das, was uns jetzt bevorsteht, ist ein neuer Abschnitt im Nord LB Konzern, in dem sich das, was die Bremer Landesbank lange ausgemacht hat, nur in Teilen wiederfinden lassen wird. Ich wünsche mir von Herzen, dass diese Veränderungen für den Bereich unserer Bremer Kunden sehr überschaubar bleiben. Davon gehe auch aus, allein aus dem Grund, weil die Mannschaft vor Ort, die das weiterführen wird, für Kontinuität steht. Das ist wichtig für den Standort Bremen. Aber Sie erkennen sicher zwischen den Zeilen, dass ich ein wenig Sorgenfalten habe, dass dieses Geschäftsmodell, das außerhalb der Schifffahrt extrem erfolgreich war, in Teilen angetastet werden könnte.
Wurmt Sie das?
„Wurmen“ wäre der falsche Ausdruck. Es besorgt mich, weil wir im Zweifelsfall etwas verlieren, das nicht so schnell wieder aufzubauen wäre. Ich meine diese über Jahrzehnte gewachsenen Beziehungen in Bremen und umzu. Wenn Sie einen solchen Kundenstamm verloren haben, dann bauen Sie ihn nicht so schnell wieder auf. Insofern habe ich die die Hoffnung, dass es Bestand behält.
Wenn man in seinem Leben das Glück hat, dass der Beruf nicht Pflicht, sondern Kür ist, dann muss man mit Demut herangehen.
Jeff Bezos (Amazon; Anmerkung) ist laut Forbes vor wenigen Tagen zum „reichsten Mann der Welt“ geworden. Haben Sie das kommen sehen?
Ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht. Ich freue mich, dass er das ist. Wenn ein Mensch 91 Milliarden US-Dollar schwer ist, ergibt sich aus diesen 91 Milliarden viel mehr Verantwortung, als die meisten, die so viel Geld haben, daraus machen. Ich wünsche diesen Menschen die Einsicht, dass wir nicht nur Individuen sind, sondern dass wir in einer Gemeinschaft leben. Angesichts der Probleme, die wir gerade in den USA haben, der Ungleichheit, der ungleichen Einkommensverteilung, stünde es solchen Menschen sehr gut an, Teile davon so zu investieren, dass diese Probleme besser in den Griff gebracht werden. Das wäre zumindest mein Ansatz, wenn ich in einer solchen Position wäre.
CHAPEAU, unser Magazin, ist „Print“, analog. Mancher Tech-Nerd würde sagen, „von gestern“. Wo sehen Sie uns in fünf Jahren?
Ich sehe Sie vor großen Herausforderungen. Ich glaube, für Print-Medien ist es wichtig, die elektronischen Medien nicht zu vernachlässigen. Es ist ein Spagat. Ich gehöre auch zu den old-fashioned guys, die gerne ein Stück Papier in der Hand haben, um es zu lesen. Wir haben aber einen Umbruch in der Gesellschaft. Die junge Generation geht anders mit Informationen um und hat andere Gewohnheiten; denen gilt es Rechnung zu tragen. Die Zukunft des Print-Modells, des Analogen, ist meines Erachtens nur mit diesem Doppelschritt des „sowohl-als auch“ denkbar und möglich.
Wie stehen Sie zur Qualität, zur Nachhaltigkeit des Gedruckten?
Qualität und Nachhaltigkeit sind die Grundpfeiler einer aufgeklärten Gesellschaft. Wenn wir über den Zeitgeist der Aufklärung sprechen, sind das die wesentlichen Kontributoren, um dort hinzukommen, wo wir heute stehen. Ich mache mir bisweilen Sorgen, dass wir heute im medialen Umfeld zu eindimensional unterwegs sind. Da sind die Schlagzeilen, die das Denken bestimmen, und die Abstraktionsfähigkeit – das heißt die Schichtung einer Situation, eines Problems, die die höchste Form der Intellektualität ist – findet nicht statt. Da ich nicht nur in vielen ökonomischen, sondern auch in politischen Formaten unterwegs bin, erlebe ich persönlich, dass die Eliten häufig auf eindimensionalen Ebenen sprechen, ohne die mittel- und langfristigen Wirkungen von Maßnahmen vollständig zu erfassen. Doch wenn ich nachhaltige Lösungen herbeiführen will, muss ich genau das tun. Ich nutze gerne das Beispiel eines Arztes: Wenn ein Arzt nur auf eine oberflächliche Diagnose Wert legt, dadurch eine letale Krankheit, die im Grunde zu dieser oberflächlichen Problematik führt, übersieht, ist das für den Patienten unter Umständen tödlich. Abstraktion ist in Politik und Ökonomie unverzichtbar. Was auf Anhieb leicht definierbar scheint, ist es bei näherem Hinsehen und unter mittel- und langfristigen Aspekten oftmals nicht. Ich habe einige ernste Gespräche mit Politikern geführt, wo mir nicht nur einmal entgegnet wurde: „Wow, so habe ich das noch gar nicht betrachtet.“ Es ist elementar, den richtigen Lösungsansatz für unsere Gesellschaft, für die Qualität unserer Lebensumstände, ins Auge zu fassen und diese Abstraktion nicht zu vernachlässigen.