Kolumne FRÜHER WAR DIE ZUKUNFT BESSER

FRÜHER WAR DIE ZUKUNFT BESSER

Dr. Stefan Kaletsch

Der wunderbare Spruch „die Zukunft war früher auch besser“ des unvergesslichen Komikers Karl Valentin war inspiriert durch die weit verbreitete Haltung, in der man gerne die gute alte Zeit verklärte. Mit der Aussage, dass früher selbst die Zukunft besser gewesen sei, führt Valentin diese geläufige Verklärung ad absurdum. Das ist witzig. Doch wenn man aus heutiger Perspektive darüber nachdenkt, besitzt der Spruch nicht nur Witz, sondern auch Wahrheit.

Eigentlich existieren doch genügend Gründe, sich über die aktuelle Lage unseres Landes zu freuen. Man denke etwa an den hohen Beschäftigungsstand, der 2018 sogar ein neues Rekordhoch seit der Wiedervereinigung erzielte und die Arbeitslosenquote auf 5,2 Prozent senkte. Es ist gar nicht so lange her, dass Deutschland als „der kranke Mann Europas“ galt. Noch vor 12 Jahren war die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch. Auch die Steuerquellen sprudeln wieder und verhelfen uns seit Jahren endlich dazu, eine Nettoneuverschuldung zu vermeiden. 2019 wurden der Mindestlohn und der Steuerfreibetrag angehoben, die Krankenkassenbeiträge gesenkt und die Steuersätze an die so genannte „kalte Progression“ angepasst.

War nicht die Zufriedenheit der Bundesbürger über viele Jahrzehnte an solche Kennzahlen gebunden? Mittlerweile wohl nicht mehr. Von einer nationalen Hochstimmung kann man jedenfalls nicht gerade sprechen. Im Gegenteil. Ein Paradoxon? Ich denke nicht. Der scheinbare Widerspruch ist erklärbar. Erstens sagen diese Statistiken nichts über die Verteilung der Einkommen und Vermögen aus. Zum anderen verstecken sich hinter dem hohen Beschäftigungsgrad viele Jobs, von denen man nicht leben, geschweige denn Kinder großziehen kann. Und es gibt eben noch einen dritten Aspekt, der selbst vielen Bürgern, denen es momentan gut geht, den Freudentanz verdirbt: Der Blick in die Zukunft. Der Mensch besitzt die große Gabe und auch Last, sich eine Zukunft vorzustellen. Das kann Hoffnung aber auch Angst hervorrufen.

Der spekulative Blick in die weltliche Zukunft ist maßgeblich für das Lebensgefühl. Die Deutschen sind vielleicht sogar außergewöhnlich „begabt“ darin, ihre Stimmung von Zukunftsimaginationen abhängig zu machen. Damit verbinden sich gute und schlechte Aspekte. Gut ist, dass man umsichtig ist und keine unkalkulierbaren Risiken eingehen will. Schlecht ist, dass man Gefahr läuft, hier das Maß zu überziehen, und in eine mutlose Paralyse verfällt. Doch wer sich nicht mehr bewegt, kann auch keine neuen Perspektiven mehr gewinnen, jedenfalls keine positiven. Zum ehrlichen Befund der aktuellen Lage unserer Gesellschaft gehören zweifelsohne die negativen Zukunftsperspektiven. Und da wird Valentins Witz zur Wahrheit: Früher war die Zukunft nämlich in der Tat besser. Zwar war sie nicht besser als die heutige Gegenwart. Aber sie war besser als die heutige Zukunft. Genauer: Früher waren die Zukunftserwartungen im Vergleich zur damaligen Gegenwart weit besser als unsere heutigen Zukunftserwartungen im Vergleich zur aktuellen Gegenwart.

Bevor dem Leser von diesen arithmetischen Zeitenoperationen schwindelig wird, hier nochmals ganz einfach: Früher glaubte man an eine ständige Verbesserung der Lebenssituation. Heute glaubt man an eine ständige Verschlechterung. In Zeiten des Wirtschaftswunders ging es den Deutschen im Vergleich zu heute noch recht schlecht. Aber sie glaubten an eine bessere Zukunft: „Wohlstand für Alle“ verkündete Ludwig Erhard. Welch wundervolle Verheißung! Und Erhard behielt sogar Recht. Vieles wurde für viele über lange Zeiträume ständig besser: Einkommen, Bildung, Konsum, Wohnsituation, Mobilität, Gesundheit, Arbeitszeit, Freizeit und Alterswohlstand. Es folgte eine unglaubliche Fortschrittsgläubigkeit, getrieben von verheißungsvollen wissenschaftlichen Entdeckungen und Innovationen, welche die Menschheit bis auf den Mond schossen. Alles geht. Keine Grenzen. Das traf auch auf die EU zu – eine wachsende „offene Gesellschaft“, bestehend aus ehemaligen Feinden, inklusive deutsch-deutscher Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges. „The End of History“ wie der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama nach dem Scheitern der sozialistischen Systeme verkündete? Wohl kaum. Die Geschichte der Gesellschaftsordnungen hört erst auf, wenn es niemanden mehr gibt, der sie schreibt.

Bleibt die Frage, welche Zukunft die Bundesbürger heute sehen? Da sind erstens die globalen Sorgen: Klimawandel und Plastikverseuchung, Überfischung, ein neuer Kalter Krieg, der islamische beziehungsweise rechtsradikale Terror, der Aufstieg eines diktatorischen Chinas und der Ausstieg einer entrückten USA. Hinzu kommen die nationalen Sorgen: Prognosen über Pflegenotstand, abnehmende medizinische Versorgung, Bildungsnotstand, Defizite der Digitalisierung, Wohnungsnot, Fachkräftemangel, abnehmende Steuereinnahmen, Zusammenbruch des Rentensystems und die Angst des Mittelstandes vor dem sozialen Abstieg. Stark verbreitet ist insbesondere die Angst vor Altersarmut, die sich laut einer Umfrage von Ernst&Young im vergangenen Jahr sogar auf 71 Prozent der Befragten extrem erhöht habe. Das sind keine gesellschaftlichen Randprobleme mehr. Die Migrationsproblematik lasse ich einmal bewusst außen vor. Die Ängste, die einige Menschen hiermit verbinden, sind sehr subjektiv und nicht selten durch Filterblasen in den Sozialen Medien völlig überhöht. Gewiss, man muss auch diese Ängste ernst nehmen, allerdings ohne dabei menschenverachtende Standpunkte zu tolerieren. Ich weiß nicht, ob die Menschheit sich rechtzeitig organisieren kann, die globalen Probleme zu lösen. Als typisch Deutscher sehe ich da eher schwarz. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Wo ich optimistischer bin, oder jedenfalls mehr Ansatzpunkte zum Handeln sehe, sind die Probleme, welche sich auf unserer nationalstaatlichen Ebene befinden. Hier gäbe es relativ einfache Möglichkeiten, sie zu lösen. Allerdings müssen wir uns endlich aus der mutlosen Paralyse befreien und auf neuen Wegen neue positive Perspektiven schaffen, damit die Zukunft morgen besser sein wird, als sie uns heute erscheint.

Kategorie: Kolumne
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