Menschen Interview mit Tim Raue

Interview mit Tim Raue

Wenn es um Qualität auf dem Teller geht, bin ich unerbitterlich.

Wenn es um Qualität auf dem Teller geht, bin ich unerbittlich

Text: Arash Farahani / Fotos: Contentley Media

Mit Biss, unermesslicher Energie und eigenen Interpretationen der asiatischen Küche hat es der Berliner Star-Gastronom Tim Raue in die Elite weltbester Spitzenköche geschafft. In einem sehr persönlichen CHAPEAU-Gespräch redet der Selfmade-Unternehmer über Verantwortung, Siege und Niederlagen – und darüber, warum er sich auch vom Lockdown nicht unterkriegen lässt. 

Info – Tim Raue ist 1974 in Berlin geboren und in Kreuzberg aufgewachsen. Sein zweites Lehrjahr absolvierte er im Restaurant „Chalet Suisse“. Als Küchenchef im Berliner Swissôtel erhielt er 2007 seinen ersten Michelin-Stern. Sein 2010 eröffnetes Restaurant „Tim Raue“ ist vom Guide Michelin mit zwei Sternen ausgezeichnet und wird unter den weltbesten Restaurants geführt. Mittlerweile führt Tim Raue neun Betriebe, darunter die Villa Kellermann in Potsdam, und er tritt im Fernsehen auf, u.a. mit Tim Mälzer in der Reihe „Kitchen Impossible“.

CHAPEAU — Du bist ein vielfach ausgezeichneter Koch und ein erfolgreicher Gastronom mit zehn Restaurants. Was macht die Corona-Krise jetzt mit dir?

TIM RAUE – Zunächst einmal hat sie dazu geführt, dass ich nun keine zehn Restaurant mehr habe. Das Restaurant in St. Moritz habe ich seit März geschlossen. Die Lage ist herausfordernd. Wir dürfen unsere Restaurants nicht so betreiben wie wir es wollen. Zehn Monate lang haben wir das so hingenommen. Jetzt aber sind wir an dem Punkt, wo es reicht. Es gibt Grundgesetze, und es geht um die Relationen. Wer darf aufmachen und wer nicht? Hygienemaßnahmen, Luftfilter, Luftaustausche – wir machen alles, damit der Gast bei uns sicher ist. Seit Monaten halten wir Selbsttests bereit. Aber wofür das alles? 

Findest du, dass die Deutschen die Repressalien zu passiv hinnehmen?


Wir hatten in Berlin große Demonstrationen, wo sich dann Spinner mit Menschen mischten, die einfach nur für ihre Rechte eingetreten sind. In einer Demokratie muss man sich streiten können. Und zwar auf einem Niveau, wo es nur darum geht, was uns jetzt hilft und wie die Relationen sind. Mir ist vor allem die Solidarität mit den Mitarbeitern wichtig, die jetzt vier oder fünf Monate mit 70 Prozent Kurzarbeitergeld zuhause zu sitzen. 

Wäre der schwedische Weg ein Vorbild?

Man sollte mit der Situation pragmatischer umgehen. Ich habe einen deutschen Pass und bin mit einer Österreicherin verheiratet. Gerade in Österreich handelt man viel pragmatischer. Die Inzidenzwerte sind viel höher, trotzdem hat man den Lockdown beendet. Man schützt aber die Leute, die vorrangig den Schutz brauchen. Vor den Pflege- und Altersheimen achtet jemand darauf, dass nicht jeder Besucher einfach hineingeht. Seit Monaten wird man dort vorher getestet. Das wird viel stärker kontrolliert als bei uns. Das ist der richtige Weg. Nach einem Jahr Corona sollte die Regierung kapiert haben, dass wir Menschen agiler sind als sie es ist. 

Ist die Politik zu unflexibel?

Die Regierenden haben uns anfangs die Masken verwehrt, weil sie keine gekauft hatten. Sie haben ihren Bürgern auch nicht zugetraut, dass wir eine Lösung für das Problem finden. Das haben wir aber. Die Schneider haben Masken genäht, andere haben das in Heimarbeit gemacht. Das gilt auch für die Selbsttests. Wir testen unsere Mitarbeiter alle paar Tage und uns selbst sowieso. Dafür brauchen wir keine Politik, die das Ganze bürokratisch verkompliziert. 

Könnt ihr mit dem Außer-Haus-Verkauf eure Kosten decken?

Freunde in Hongkong und China hatten mir schon lange vor dem ersten Lockdown erzählt, was da auf uns zukommt. Ich habe anfangs noch gedacht, das würde weitgehend in Asien bleiben, aber ich habe schon mal die Alternativen durchgespielt. Meine Geschäftspartnerin Marie und ich betreiben das Geschäft schon eine ganze Weile und versuchen immer noch einen Plan B oder C in der Tasche zu haben. Wir haben meine kulinarischen Konzepte in einen Topf geworfen, einmal kräftig durchgeschüttelt und das Ganze „Fuh Kin Great“ genannt. Das ist eine Verballhornung dessen, wie die Chinesen das englische „fucking great“ aussprechen. Unser „Fuh Kin Great“- Lieferservice hat während des ersten Lockdowns in Berlin auch sehr gut funktioniert. Und als im Sommer die Öffnung kam, konnten wir uns überhaupt nicht beschweren. Die Gäste waren dankbar, wieder kommen zu können, und haben uns quasi gestürmt. Den zweiten Lockdown haben wir dann vier Monate ohne die Hilfen der Bundesregierung überstanden. Natürlich haben wir alles private Geld investieren müssen. Aber wir haben es bis auf den Januar geschafft, die Mitarbeiter mit wenig Kurzarbeitergeld voll zu bezahlen. Als Unternehmer geht es mir nicht immer gleich um die Frage, wer mir hilft, wo ich Unterstützung bekomme. Es geht darum, einen Weg zu finden. Aus Fehlern lernen. Wir hatten anfangs Verpackungen für den Versand, in denen 99 Prozent der fein aus Schokolade gearbeiteten Koi-Karpfen den Transport nicht überlebt haben. Da ärgert man sich, aber lernt, wie es besser geht. Immer weiter, nie aufgeben. 

Aber dazu gehört auch, immer wieder auf die Lage der Gastronomie hinzuweisen – wie es Tim Mälzer in der Sendung „Markus Lanz“ gemacht hat. Wie gehst du mit Kommentaren von Leuten um, die seinen Gefühlsausbruch dort als „Promi-Gejammer“ denunzieren?

Tim Mälzer ist ein sehr guter Freund und ich kann nachempfinden, dass ihm da die Tränen kamen. Es geht um sein Lebenswerk, und wenn das ohne sein Verschulden den Bach runter geht, dann sagt man auch mal Scheiße. Bei ihm sind weit über 100 Leute angestellt, und dahinter steckt ein riesiger finanzieller Druck. Das geht nur, wenn Gäste kommen. Von Gästen und Presse bekommen wir auch nur aufmunterndes Feedback, aber es gibt halt Leute, die immer draufhauen, egal ob es gegen Steffen Henssler, Alexander Herrmann, Tim Mälzer oder Tim Raue geht. In Deutschland stößt du immer wieder auf Neid und Missgunst. Das nicht als persönlichen Angriff zu verstehen, musste ich erst lernen. Auch in vielen Therapiesitzungen. Wenn man in der Öffentlichkeit steht, muss man das ignorieren. Wer in der Champions League spielt, verliert auch mal. So funktioniert der amerikanische Business-Weg. Du fällst hin, stehst wieder auf, putzt dir den Mund ab, lernst daraus und gehst weiter. 

Gerade gestern habe ich mit einigen verzweifelten Gastronomen gesprochen, die meinten, angesichts der Einschränkungen mit den vielen Kosten lohnt es sich einfach nicht, wieder aufzumachen. Wie siehst du das?

Es gibt tatsächlich Möglichkeiten, den Laden zuzumachen und mit relativ geringen Verlusten aus der Krise herauszukommen. Für das Restaurant Tim Raue war das nie eine Option. Wir machen definitiv weiter, auch wenn wir jetzt über Monate Verlust machen oder gerade so eine schwarze Null hinbekommen. Ich will auch nicht jammern. Nur über die ausbleibenden November-Hilfen habe ich mich beschwert. Die Anträge wurden über vier Monate weder bearbeitet, noch haben wir ein Feedback erhalten. Das habe ich lauthals, aber sachlich kritisiert. Ich spreche die Probleme klar an und sage auch, dass ein Konzept wie im letzten Sommer nicht überall funktionieren kann. Nicht jeder hat die Möglichkeit, Gäste auf einer Terrasse zu bewirten. Und wenn du ein Restaurant hast, in dem du vorher 600 Gäste bewirten konntest und jetzt nur noch 150 haben darfst, heißt das ja auch, dass du nur noch ein Viertel des Personals brauchst. Dass du nur noch ein Viertel des Ertrags hast bei gleichbleibenden Mietkosten. Das wollen wir vermitteln, wenn wir über notwendige Hilfen sprechen. 

Wie hast du die Zwangspause für dich selbst genutzt?

Für Hobbys habe ich keine Zeit. Ich bin von früh morgens bis spät am Abend davon getrieben, den Laden am Laufen zu halten und im Restaurant Tim Raue das „Fuh Kin Great“-Lieferkonzept umzusetzen. Und ich habe mich auch mit den Menschen auseinandergesetzt, die in meinen anderen Betrieben arbeiten, die alle geschlossen wurden. Allein auf den vier Kreuzfahrtschiffen waren das knapp 100 Mitarbeiter. Die wurden wieder auf die Philippinen oder nach Bali zurückgeschickt, sind teilweise irgendwo dazwischen gestrandet. Die brauchen auch emotionale Unterstützung. So bin ich bis jetzt kaum zur Ruhe gekommen. Um überhaupt mal ein bisschen Luft zu holen und um für die Zeit im Frühjahr und Sommer gewappnet zu sein, haben wir das Restaurant im Januar für zweieinhalb Wochen geschlossen. Wir hatten die Hoffnung, dass die Inzidenzen fallen und wir uns danach wieder normal bewegen können. Das ist nicht der Fall, und umso mehr will ich jetzt mit voller Energie und Tatendrang die nächsten Herausforderungen angehen. 

Was ist das Geheimnis für die enormen Energie, mit der du deine Ziele verfolgst?

Ein Geheimnis gibt es nicht. Ich bin durch meine Kindheit und Jugend geprägt. Meine Familie hat nicht funktioniert, und familiäres Miteinander habe ich erst über die Leute meiner Umgebung kennengelernt. Die stammten zu einem großen Teil aus der Türkei, und da war jeder für den anderen da. So konnte ich mir ein eigenes Bild von der Welt machen. Am wichtigsten ist mir, dass es den Menschen, die mit mir zusammen den Weg gehen, gut geht. Ich sage was ich denke. Das liegt vielleicht an meiner Berliner DNA, wir haben eine große Schnauze. Und die Energie kommt sicher daher, dass ich aus der Armut komme. Dorthin will ich nicht wieder zurück. Das ist wahrscheinlich der stärkste Motor, den man haben kann. Es gilt, nicht nachzulassen. Wenn ich mal einen freien Sonntag habe, schätze ich es sehr, nichts zu tun. Aber wenn ich dann aufs Telefon gucke und etwas erledigt werden muss, dann diskutiere nicht lange herum, sondern tue es. Das macht mir auch Spaß. Ich bin Koch und gastronomischer Unternehmer mit allem, was ich habe. Und das lebe ich auch. Ich liebe es und leide auch damit. 

„Wenn das Lebenswerk ohne eigenes Verschulden den Bach runter geht, dann sagt man auch mal Scheiße.“

Was bedeutet dir Berlin?

Das Großartige an Berlin ist, dass es mehr ist als eine Stadt. Hier bieten sich Möglichkeiten wie nirgendwo sonst in Deutschland. Deshalb kommen so viele kreative Leute hierher, die sich anderswo vielleicht eingesperrt fühlen. Es gibt noch einen weiteren Vorteil: Die Leute sagen dir hier sehr klar ins Gesicht, wenn sie etwas nicht mögen. Aber sie geben dir auch mit einer besonderen Herzlichkeit zu verstehen, wenn du etwas gut machst. Allerdings ist Berlin in den letzten zehn Jahren brutal gewachsen. In der Krise sieht die Stadt jetzt, dass sie einer Hybris aufgesessen ist. Für die vielen Besucher hat sie Angebote geschaffen, Restaurants, Kultur, die nun nicht mehr gefüllt werden können. Vermutlich auch in den nächsten zwölf Monaten nicht. Wir haben die Freiheit verloren, grenzenlos zu reisen. Aber Berlin hat schon ganz andere Krisen erlebt und wird da durchkommen. Auch wenn Mieten und Immobilienpreise in den letzten Jahren gestiegen sind, wird die Stadt ihren Reiz behalten.

Siehst du dich als Teil der Berliner Gastro-Szene oder eher als Einzelkämpfer?

Ich bin nicht der Typ, der ständig irgendwelche Vereine gründen will. Aber ich bin jetzt Mitte-Ende vierzig und versuche am Puls der Zeit zu bleiben. Zu gucken, wo die neuen Trends herkommen. Ich bin in Berlin verankert, schaue aber auch, was darüber hinaus kulinarisch geboten wird. Ich beobachte, wie Menschen mit Küchen aus aller Welt hierherkommen, und ich wäge ab, was ich davon annehmen kann, ohne mir untreu zu werden. Für die typische Berliner und Brandenburger Küche habe ich die Villa Kellermann in Potsdam. Aber mit dem Restaurant Tim Raue will ich meine Sehnsucht nach Asien befriedigen, vor allem nach den Küchen Thailands, Chinas und Japans. Damit sind wir unter die 50 besten Restaurants der Welt gekommen. Vor Corona waren wir immer drei Monate im Voraus ausgebucht. Auf dem Level, auf dem wir kochen, muss die Qualität auf dem Teller den höchsten Ansprüchen genügen. Gemüse, Kräuter und Obst beziehen wir mittlerweile zu 80 Prozent aus der Region. Solange die Qualität stimmt, halten wir diese Verbindung. 

Wie kam es zu der Verbindung mit Günther Jauch und Eröffnung der Villa Kellermann in Potsdam?

Das war so wie bei fast allen meiner Projekte: Inhaber kommen auf mich zu und fragen, ob ich mir vorstellen könnte, das Objekt mit ihnen zu betreiben, und welche gastronomische Idee ich dazu hätte. Zur Villa Kellermann habe ich Herrn Jauch ein klares Konzept mit Rezepten meiner Großmutter aus Ostpreußen, Berlin und Brandenburg unterbreitet. Mit Christopher hatte ich dafür auch schon den richtigen Küchenchef und mit Patrizia die richtige Restaurant-Managerin. Wir haben das dann sehr schnell hingestellt, und es ist ein unglaublich gut laufendes Restaurant mit vielen Emotionen. Manche Gäste sind dort erstmals nach 20 Jahren wieder hingekommen, haben Taufen und Geburtstage gefeiert und sich in den Räumen sehr wohl gefühlt. Für mich ist aber entscheidend, dass den Gästen die Küche gefällt. Ich suche den kulinarischen Spaß. Das ist für mich das Herumwühlen in Süße, Säure, Schärfe. Wobei ich bei der Villa Kellermann eher von pikanten Noten, weniger von Schärfe spreche. 

Man hört, dass du in deiner Jugend ein böser Junge warst…

…so kann man es auch nennen. 

Sagen wir, du hattest eine turbulente Zeit. Was hat dir diese Phase fürs Leben mitgegeben?


Ich bin in Kreuzberg unter widrigen Verhältnissen aufgewachsen. Mein Vater hat mich geschlagen. Ich habe Gewalt für einen Teil meines Lebens gehalten und bin vom Opfer meines Vaters selbst zum Täter geworden. Später habe ich eine bessere Entwicklung genommen, aber als Mitglied der Jugendgang Boys 36 habe ich in den Auseinandersetzungen immer noch eine sportliche Herausforderung gesehen. Es ging darum, möglichst fair zu bleiben. Vor allem aber habe ich gelernt, mich durchzusetzen. Und neben der gelebten Kriminalität und der Gewalt hatten wir einen familiären Zusammenhalt. Eine Liebenswürdigkeit, die ich vorher nicht gekannt hatte. Trotz der Armut haben die Mütter jeden Tag gekocht, mich an den Tisch gebeten, und die Familien haben das Wenige mit mir geteilt. Das hat mich geprägt. Früher habe ich versucht, diesen Lebensabschnitt zu verstecken; meine Herkunft, meine Sprache, mein Aussehen. Dazu bin ich mittlerweile nicht mehr bereit. Jetzt sage ich, dass es ein wichtiger Teil meines Lebens war. Ich habe mich öffentlich oft bei denen entschuldigt, denen ich damals Schaden zugefügt habe. Ich will das nicht beschönigen, aber ich schaue jetzt vorwärts. Und rückblickend sage ich, dass meine Lebensgeschichte mich auf den Weg gebracht hat, auf dem ich heute gehe. Ich erzähle die Geschichte auch, um Menschen zu motivieren, die heute noch in diesen Verhältnissen leben – sozial schwach, mit Migrationshintergund. Ich bin mit einem deutschen Pass groß geworden, aber gefühlt bin ich kein Deutscher. Ich bin Berliner und Europäer. Wir haben den Verein „Kiez. Perspektiven und Chancen“ gegründet und versuchen anhand meiner Geschichte den Jungen vorzuleben: Ihr könnt es schaffen, aber ihr müsst unfassbar viel investieren. Alles andere wäre gelogen. Im Sommer habe ich mein dreißig jähriges Jubiläum in der Küche. 25 Jahre davon habe ich nie unter 16 Stunden am Tag gearbeitet. Den gesamten Lohn habe ich für Essen und Kochbücher ausgegeben. Ich hatte keine Freunde, habe keine Partys gefeiert und nicht mitbekommen, welche Musik angesagt war. Alles habe ich investiert, um in meinem Metier möglichst gut zu werden. Dass es so gut werden würde, habe ich mir nicht erträumt. Und ich bin auch gar nicht stolz darauf, sondern sehe es eher als Ansporn, immer weiter zu gehen. Jeden Mittag, jeden Abend neue Gäste. Denen ist völlig egal, welcher Service gestern geboten wurde. Also Vollgas bei jedem der acht- bis neunhundert Teller, die jeden Tag über den Tisch gehen. Immer den Anspruch an sich selbst haben, zu gewinnen. Das lebe ich vor. Für die Menschen um mich herum kann das unerträglich sein. Mit dem Alter bin ich im Ton zwar etwas freundlicher geworden. Aber wenn es um die Qualität auf dem Teller geht, bin ich immer noch unerbittlich. 

„In der Krise sieht Berlin jetzt, dass die Stadt einer Hybris aufgesessen ist.“

Du bist mit 23 Küchenchef geworden, und es herrschte ein rauer Ton in der Küche, bis hin zu Handgreiflichkeiten. Heute kommst du ruhig, kontrolliert und präzise rüber. Fällt es dir schwer, deine Energie zu kontrollieren?

Mit Anfang 30 war mir jeder Teller genauso wichtig wie heute. Aber wenn er damals nicht ganz perfekt war, hatte ich immer die Angst, alles zu verlieren und wieder in der Gosse zu landen. Deshalb bin ich bei jeder Kleinigkeit wie ein tasmanischer Teufel durch die Küche getobt. Es hätte auch gereicht zu sagen, eine Prise mehr Salz und schiebe bitte den Apfel-Bittermelonensalat drei Zentimeter nach rechts auf dem Teller. Stattdessen habe ich gedroht: Ich hack‘ dir die Hände ab, wenn du das nochmal machst; ich komm zu dir nachhause und zünde dir die verschissene Bude an, ich kack‘ dir in den Hals… Das war totaler Quatsch, weil der oder die Betreffende überhaupt keine Schuld hatte. Ich war schon während meiner Schulzeit als schwer erziehbar klassifiziert. In sozialen Projekten des Senats oder der Städte, in denen ich gelebt habe, habe ich mich dann selbst in Therapie begeben – einfach um an meinen Fehlern zu arbeiten und menschlicher zu werden. Das Schlimmste war für mich, als mich jemand in der Küche gefilmt hat, während mir dort gerade etwas nicht passte und ich total ausgerastet bin, Teller in Ecke geworfen habe. Da habe ich gedacht, mein Gott, was für ein Arschloch. Mit dem willst du auch nicht arbeiten. Heute weiß ich, wer ich bin, wo ich herkomme und wo ich hinwill. Und ich kann über mich selbst entscheiden. 

Dieser Prozess muss sehr aufreibend gewesen sein.

Natürlich hatte ich früher mit Burnouts zu kämpfen. Ich war ausgebrannt, habe viel zu lange gearbeitet, mir viel zu wenig Schlaf gegönnt und den ganzen Tag nichts gegessen. Dann nachts um zwölf bei meinem Lieblings-Chinesen 20 Gerichte aus der Friteuse bestellt und reingeschlungen, noch zwei Flaschen Ginger Ale draufgeklebt. Wie ein Auto mit komplett leerem Tank, bei dem sich die Räder sich nicht mehr drehen. Ich aber habe gesagt, da geht noch was, zwei Zentimeter noch! Dann erst habe ich die Karre getankt und lag vollgefressen im Bett. Das musste ich alles durchmachen. Bei einem großen Kochmeister zu lernen, hätte mir viele Fehler erspart. Aber ich musste es auf die harte Tour durchziehen. Das hat viel Kraft gekostet, und ich würde es nicht gern noch einmal so machen. 

Wer Gordon Ramsey kennt, weiß dass in seiner Küche in jedem zweiten Satz das F-Wort vorkommt. Erkennst du Parallelen zu dir?

Nein, mit Gordon Ramsey habe ich nichts zu tun. Ich war mal bei ihm zum Probe-Arbeiten, als er noch im „Aubergine“ in London Küchenchef war und einen Stern hatte. Das war ganz lustig. Aber er ist ein englischer Hooligan, und das bin ich nicht. Ich kann mich artikulieren, habe schon mit 11, 12 angefangen, die FAZ, die Süddeutsche Zeitung, Stern und Spiegel zu lesen. Bildung war mir wichtig. Ich habe auch registriert, dass es nicht sehr smart war, wenn ich mich irgendwo in meiner Bomberjacke und mit meinem Berliner Slang beworben habe. Ich bin kein Asi und kein Idiot. Aber ich bin auch kein hochgestochener Akademiker. Damit habe ich mich mittlerweile arrangiert. Und wenn mir mal etwas rausrutscht wie „Verfickte Scheiße“ und die Leute mich komisch angucken, dann ist das halt so. Wo ich herkomme, passiert das mal. Da geht es einfach darum, mal Emotionen herauszulassen. Ich bin sehr emotional. Aber ich greife aber keine Person an und sage „Du verfickter Hurensohn“ – außer zu Mälzer. Der hat das aber auch verdient (grinst). In mir drinnen ist ein großes Kraftwerk, und das schlägt im Guten wie im Schlechten aus. 

Wie wichtig ist dir die Arbeit im Fernsehen?

Fernsehauftritte haben mit der Realität von Restaurants gar nichts zu tun. Eine Fernsehproduktion besteht vor allem aus Warten. Bei „Kitchen Impossible“ haben die teilweise 90 Minuten lang einen Set aufgebaut und ausgeleuchtet, bevor wir dann 30 Sekunden darin gedreht haben. Aber in dem Moment, wenn die Kamera angeht, muss man sofort präsent sein und darf sich nicht ablenken lassen. So etwas bin ich aus der Küche nicht gewohnt, und anfangs hat mich das total ausgelaugt. Ein Drehtag kam mir vor wie eine Woche kochen. Ich bin froh, dass ich da viel von meinem Kumpel Mälzer lernen konnte, und mittlerweile habe ich das viel besser im Griff. Fernsehen bringt Popularität, aber es bedeutet auch, dass da jetzt hunderttausend Leute mit hunderttausend unterschiedlichen Meinungen auf einen zukommen. 

Über das Fernsehen bist du natürlich mit Tim Mälzer in Kontakt. Verbindet euch darüber hinaus auch Privates?

Wir sind Freunde, und wir haben unsere Bereiche abgesteckt. Jeder von uns weiß, was man besser kann als der andere, und so ergänzen wir uns. Andere sind immer beeindruckt, wie wir uns gegenseitig aufs Übelste beschimpfen, uns das aber gar nicht krummnehmen. Mit „Kitchen Impossible“ haben wir ein Format, das uns alle Freiheiten lässt. Niemand sagt uns, was wir zu tun oder zu lassen haben. Deshalb agieren wir da ganz pur und ehrlich. Aber es gibt Menschen, die sich darüber furchtbar echauffieren. Nach jeder Sendung erhalten wir hundert Emails, in denen sich Leute beschweren, wie man im Fernsehen eine solche Sprache benutzen kann. Dazu sage ich, mein Gott, dann schalte halt aus. So sind wir eben, und wir zeigen, was wir leben. 

2017 hast du in einer Folge der Netflix-Dokuserie „Chef’s Table“ mitgemacht. Da ging es in der Küche ja auch sehr rau zu…

Das war schon sehr intensiv. „Chef’s Table“ hat fünf Tage lang bei uns gefilmt. Die kamen jeden Mittag und jeden Abend, das ging teilweise 14 Stunden am Tag. Ich koche sehr gern, aber vor der Kamera zu stehen, erfordert eine ganz andere Konzentration. In dem Moment präsent zu sein, Energie auszustrahlen, nicht mehr aufs Telefon zu gucken, sich nicht mehr ablenken zu lassen. Und der liebe Christopher – heute Küchenchef in der Vila Kellermann – war damals für die Saucen und das Fleisch zuständig und hatte da tatsächlich ein bisschen geschludert. Er hat sich von den Kamerateams ablenken lassen und die Sachen nicht präzise abgeschmeckt. Und das mehr als einmal. Chrissie hat fünf Tage lang jeden Mittag und jeden Abend bei jeder Soße herumgeschludert. Irgendwann ist mir der Kragen geplatzt. Das war die Situation, die sie in die Folge hineingeschnitten haben. Wahrscheinlich war es nicht einmal meine Wortwahl, die die Leute irritiert hat, sondern meine Mimik und Gestik. In dem Moment sprühen meine Augen das aus, was ich denke: Ich hack‘ dir die Finger ab, wenn du das nicht anders machst! Eigentlich geht es mir ja nur um Präzision beim Kochen, und in der Küche ist es laut. Da quatschen zwölf Leute durcheinander, und dann muss man durchsetzungsfähig sein. Das bin ich. 

Wie siehst du dich heute als Chef?

Geprägt haben mich vor allem die fünf Jahre als Küchendirektor im Raffles Swissôtel. Als Chef von über 45 Köchen musste ich lernen, zu delegieren. Heute sehe ich mich vor allem als Mentor, der jungen Köchinnen und Köchen den Weg ebnet. Sie korrigiert, wenn ich meine, dass sie falsch abgebogen sind – kulinarisch oder auch menschlich. Ich sage den Mitarbeitern, wo sie sich verbessern können. Dass sie reden, aber auch lernen, wann es Zeit ist, sich zu fokussieren. Die wichtigsten Mitarbeiter von Marie und mir sind schon sehr lange bei uns. Sie wissen, dass ich ein fairer und direkter Chef bin und dass ich mehr lobe als tadel. Wenn mir etwas auffällt, gehe ich direkt hin, und ich bin nicht nachtragend. Einer hatte mal 15 Liter Trüffel-Jus anbrennen lassen. Das war ein Schaden von mehreren tausend Euro. Am nächsten Tag hat er wieder das Gleiche gemacht und den Ansatz fast noch einmal anbrennen lassen. Andere hätten ihm das eine Weile immer wieder aufs Butterbrötchen geschmiert, aber bei mir war das nach zwei Tagen vergessen. Was jedoch seine Kollegen mit ihm gemacht haben, ist eine andere Geschichte. 

Wie bist du überhaupt zum Kochen gekommen?

Ich habe früh in meinem Leben gewusst, dass ich etwas kreieren möchte. Zunächst dachte ich, dass es mit Graffiti geht, aber das konnten alle anderen besser. Genauso war es beim Zeichnen. Dann habe ich mich in Architektur versucht, weil ich dachte, dort würde man mir beibringen, etwas in Form zu bringen. Ich mochte auch Interior sehr gern, hatte einen Sinn für Stoffe. Aber dann war die Schule schneller zu Ende als ich gedacht hatte – mit Realschulabschluss. Also erst einmal kein Abitur, kein Studium und keine Ahnung, wo die Reise hingehen sollte. Bei einem MultipIe-Choice-Test kamen Berufe raus wie Maler, Lackierer, Landschaftsgärtner – oder Koch. Bei Landschaftsgärtner war ich sofort raus. Wenn es regnet, bin ich nicht zu gebrauchen. Beim Malerberuf, das wusste ich von meinen Graffiti-Freunden, geht es nicht um Kreativität. Da kommt der Meister und sagt, diese 8000 Quadratmeter dreifach weißen! Und Kochen? Gegessen habe ich immer schon gern. Wenn meine Großmutter für mich gekocht hat, war das etwas ganz Besonderes – wie die Umarmung, die ich in der Familie ansonsten vermisst habe. Außerdem sind Nase und Geschmack bei mir sensorisch sehr gut ausgeprägt. Also habe ich mich in den besten Hotels und Restaurants beworben. Vier Sterne, fünf Sterne. Keiner wollte mich. Herkunft scheiße, Schule schlecht und Vorstellungsgespräch – wenn es überhaupt mal dazu kam – mega kacke. Ich bin dann in einer Ausflugsbutze in Dahlem gelandet. Da ging es zu wie im Taubenschlag. Jede Woche kam einer Neuer und ging dann gleich wieder. Für mich war das perfekt, denn es ging dort nur um Leistung. Weil ich hart war und eine schnelle Auffassungsgabe hatte, konnte ich mich da schnell hocharbeiten. Im zweiten Lehrjahr war ich schon viel weiter als die meisten Köche. Aber ich wusste, dass ich da in einer richtigen Wichsbude lerne, habe deshalb gekündigt und an die Türen der besten Restaurants geklopft. Schließlich bin ich beim stellvertretenden Küchenchef eines Sterne-Restaurants gelandet, der dort seine erste Chefposition hatte. Dort habe ich meine Ausbildung zu Ende gemacht – und auch schon verantwortlich gearbeitet. Danach hat ein Rädchen ins andere gegriffen. Natürlich habe ich auch ein paar Scheißbuden durchlaufen, bin dann aber auch immer sofort gegangen. Da bin ich ganz amerikanisch. Wenn’s kacke ist, mache ich zu. Auch wenn ich später Restaurantkonzepte eröffnete, die nicht funktioniert haben, habe ich den Laden einfach wieder dicht gemacht. 

Und woher kam die Leidenschaft für die asiatische Küche?

Beim Kochen war ich anfangs nicht wirklich gut. Ich bin so schnell Küchenchef geworden, weil ich ein Team leiten und es vorantreiben konnte. Der Spaß am Kochen kam mit den ersten Auszeichnungen, zu denen ich mehr oder weniger zufällig gekommen bin. Das hat mich sehr angespornt, und ich wollte mehr. Bekam ich 13 Punkte, wollte ich 14 erreichen, und wenn ich 14 Punkte hatte, wollte ich 15. Also habe ich mich intensiv mit Kochen beschäftigt. Bevor ich das erste Mal nach Asien kam, war meine Küche eine Mischung aus dem klassisch Französischen und dem, was in Deutschland damals unter Gourmetküche verstanden wurde – immer mit einem mediterranen Touch. Dazu gab es die spanische Avantgarde, die aus 500 Gramm Fleisch immer eine kleine Perle auf dem Teller gemacht hat, und dann hast du dein Spanferkel gebraten, mit geräucherter Paprika, dreierlei Mandeln und gefüllten kleinen Schötchen von ich weiß nicht was. Die Restaurants in Frankreich waren elaboriert und im Service ging es blasiert zu. Das war viel Attitüde, aber das bin ich nicht. Daran habe ich keinen Spaß. Ich kannte bis dahin nur keine Alternative. Dann besuchte ich die besten Restaurants in Hongkong und Singapur und dachte: Alter, das ist geil! Da wurde mit den Fingern gefressen, auf den Boden oder teilweise sogar in die Silberschalen gespuckt. Da wurde richtig gefressen und gesoffen. Das fand ich toll. Auch das Essen hat mir viel besser geschmeckt als alles, was ich davor hatte. 

Aber um dann selbst asiatisch zu kochen, muss man auch den Mut haben, es mit den einheimischen Köchen aufzunehmen.

Ich habe begriffen, dass ich als Westler einen Vorteil gegenüber den Asiaten hatte. Der Thailänder ist seiner heimischen Küche verhaftet, und es wäre für ihn undenkbar, da etwas Japanisches oder Chinesisches einfließen zu lassen. Auch die Japaner und Chinesen können sich nicht vorstellen, fremde Einflüsse zuzulassen. Ich bin frei von allem und kann einfach das zusammenbringen, was ich am geilsten finde. Die Aromenwelten Thailands, den Purismus der Japaner und ihre Besessenheit, immer das beste Produkt zu nehmen; die jahrhundertealten chinesischen Techniken, aber auch das Süffige der chinesischen Hochküche – das alles habe ich mir angeeignet und daraus meins gemacht. Ich muss aber dazu sagen, dass ich dazu erst den Arsch in der Hose hatte, als ich meine ersten großen Auszeichnungen erhalten hatte. Ich war der jüngste Koch des Jahres ever und habe binnen einer Woche meinen ersten Stern bekommen. Der Chefredakteur vom Gault-Millau, Manfred Kohnke, sagte damals, er glaube, ich hätte ganz viel Potenzial und mache noch gar nicht das, was ich eigentlich wolle. Das ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Was will ich? Was bin ich? Berliner! Und du liebst das Asiatische. Dann mach es einfach! Das habe ich durchgezogen, und es hat mir einige Verbindungen abgeschnitten. Die Hotelkette wollte damals, dass ich Küchendirektor bleibe. Und ich habe gesagt, nee, ich will jetzt zeigen, dass ich richtig kochen kann. Und das habe ich dann auch gemacht. Seit 2010 machen wir das Restaurant Tim Raue. Das war die sinnvollste Entscheidung überhaupt. 

„Wenn mir mal etwas rausrutscht wie „Verfickte Scheiße“ und die Leute mich komisch angucken, dann ist das halt so.“

Trotzdem bist du noch viel unterwegs. Wo warst du zuletzt?

Ich habe das Glück, überall auf der Welt kochen zu dürfen. Vor Corona hatte ich 150 bis 180 Reisetage im Jahr, habe auf Einladung bei Präsentationen, auf großen Symposien, bei privaten Diners oder auf Weingütern gekocht. Im Januar habe ich drei Wochen lang ein Popup-Restaurant auf den Malediven betrieben. Das hat sehr viel Spaß gemacht, und ich konnte beobachten, wie freudig die Menschen reagieren, wenn sie sich wieder frei bewegen und essen gehen können. Der soziale Raum des Restaurants hat in der Krise einen ganz anderen Stellenwert bekommen. Alle sensorischen Punkte werden angesprochen. Es gibt zu essen, zu trinken, und es kümmert sich jemand um dich. Die Menschen haben in den letzten Monaten gelernt, wie großartig es ist, wenn jemand für einen da ist und einen durch einen Mittag oder Abend begleitet. 

Immer noch werden sehr viele industrielle Lebensmittel genutzt, etwa Fleisch aus Massentierhaltung. Kann die Krise einen Wandel im Konsumverhalten bewirken?

Als Köche haben wir eine Verantwortung dafür, was wir unseren Gästen servieren. 2006/2007 habe ich mit der Umstellung unserer Küche den weißen Zucker verbannt. Wir sind seitdem glutenfrei. Die Milchprodukte, die wir verarbeiten, sind laktosefrei. Der chinesische Gedanke geht davon aus, dass du dem Gast mit dem Essen etwas gibst. Wenn du ihm Knorpel servierst, machst du das nicht, weil du die selber geil findest, sondern weil die chinesische Medizin sagt, die enthalten Sachen, die gut für dich sind. Manchmal wird das weit überzogen, und ich muss jetzt nicht die Schuppen vom Schuppentier essen. Aber der Grundsatz des Gebens ist in den westlichen Ländern definitiv verloren gegangen, und die Industrialisierung von Lebensmitteln hat widerwärtige Ausmaße angenommen. Ich selbst bin mit Industriefraß groß geworden. Hätte meine Oma nicht alle paar Wochen mal für mich gekocht, hätte ich gar nicht gewusst, was frisch ist. Ich kannte nur Tiefkühlpizza, Tütensuppe und Gerichte in Alubehältern, die man zum Aufwärmen in heißes Wasser gelegt und daraus gefressen hat. Histamin- Intoleranz, Laktose- und Gluten-Unverträglichkeit – ich habe das alles und bin schwerst zuckerabhängig. Ich bin das beste Beispiel dafür, wie man sich nicht ernähren sollte. Wenn ich müde werde, kreisen meine Gedanken zuerst um Döner, Currywurst, Fritten, Pizza. Irgendein Schrott. Dazu noch irgendeine zuckerhaltige Limonade. Glücklicherweise habe ich für meine Gäste andere Wege gefunden, aber ich selbst bin davon tief geprägt und muss jeden Tag dagegen ankämpfen. Manchmal gewinne ich, manchmal verliere ich. Mittlerweile gewinne ich öfter, als dass ich verliere. Die Krise hat uns die Fehler aufgezeigt, und viele Menschen haben angefangen zu kochen. Die Jungen gehen sowieso viel bewusster mit Lebensmitteln um. Das ist eine Entwicklung. Vor zwei Jahren haben wir das vegetarische Menü, das wir seit 1997 ständig auf der Karte hatten, gegen ein veganes getauscht. Die Vegetarier machten bei unseren Gästen einen Anteil von drei bis vier Prozent aus, bei den Veganern sind es jetzt 15 Prozent. Gerade die Netflix- Sendung hat einen Generationswechsel bei uns eingeleitet. Wir haben den Wandel angenommen und den Turnaround geschafft, so dass jetzt auch die Zwanzig jährigen bei uns sitzen.
Am Anfang meiner Karriere habe ich asiatische Fertigsaucen gekauft und zum Würzen genommen. Heute kochen wir das alles selbst. Das Glutamat, den ganzen Industrieschrott und die 600 verschiedenen Es aus den Fertigprodukten halten wir draußen. 

Abstimmung bis ins letzte Detail

Ich kenne Leute, die sich über deine Soße mit dem interessanten Namen Mushi wundern.


Weil ihr etwas anderes damit assoziiert. Nee, nee, Mushi sind japanische Wesen, und wir nennen so Fischsaucen, die in Thailand Prik Nam Plao oder Nam Luk heißen. Wir hatten eine japanische Mitarbeiterin, die sich gewundert hat, warum wir überall Fischsoßen dranhauen. In der japanischen Küche ist das nicht so verbreitet wie in Thailand. Aber ich brauche die Salzigkeit, die Süße. Das muss überall dran. Wir nehmen jedoch nicht die pure Fischsoße, sondern kochen sie zusammen mit braunem Rohrzucker, Reisessig, Limettensaft und Knoblauch. Wir nennen sie Mushi, weil sie bei uns wie ein Wesen überall präsent ist. Wir verwenden sie überall. Die Menschen können mit allen möglichen Allergien und Unverträglichkeiten zu uns kommen. Aber wenn sie kein Chili essen dürfen, keine Fischsoße und keine Zitrusfrüchte, können wir leider nichts für sie tun. 

Du bist ja selbst ein Genussmensch. Hast du ein Lieblingsgericht?

Gefühlt sind das einhundertausend. Es geht immer darum, was schießt einem als erstes durch den Kopf? Das ist zu jeder Tageszeit anders. Scheint die Sonne, oder regnet es? Gäbe es aber eine Henkersmahlzeit, wäre das ganz klar die Königsberger Klopse meiner Großmutter. Auf jeden Fall auch das Kantonesische Barbecue aus dem Drei-Sterne-Restaurant Lung King Heen in Hongkong – und unbedingt noch ein Döner. Ich muss mich ja noch von Kreuzberg verabschieden. 

Du hast auch eine Schwäche für gute Weine. Gibt es die Flasche Wein deines Lebens?


Das ist keine Schwäche. Ich habe große Freude an und eine große Leidenschaft für guten Wein. Allerdings vertrage ich keine großen Mengen. Das liegt bei uns in der Familie. Nach einer halben Flasche Wein habe ich richtig einen sitzen. Wenn ich mich bis zum Lebensende auf eine Sorte beschränken müsste, würde ich nur noch rote Burgunder trinken. Da gibt es ganz tolle. Domaine de la Romanée-Conti, Armand Rousseau. Damit kann man mich kriegen, wenn man mich bestechen möchte. 

Wie siehst du die Zukunft der Gastronomie: Noch mehr Feuerwerk und Entertainment, oder Entschleunigung mit Fokus auf das Einfache?

Der Weg ist klar. Wir werden nachhaltiger und nicht mehr so viele Lebensmittel durch die Welt fliegen. Als in den letzten Monaten vieles nicht mehr möglich war, haben wir gemerkt, dass wir das auch nicht brauchen. Früher hatten wir die Wintermelone aus Thailand, jetzt tut’s der Kohlrabi. In den 12 Jahren davor kannten wir in der Gastronomie ja gar keine Krise. Es ging nur aufwärts. Deswegen bin ich sogar ganz froh, dass ich immer, wenn ich im Leben vielleicht mal etwas zu überheblich war, direkt eine Schelle eingefangen habe. Ich wurde wieder auf den Boden zurückgeholt und habe gemerkt, dass ich auch mit weniger leben kann. Die Krise jetzt wird vor allem die jungen Generationen prägen. Die Corona- Generation wird sehr viel vorsichtiger sein und nicht so mutig agieren. Das kann ein Vorteil sein, aber auch ein Nachteil. Das hängt davon ab, wie achtsam die Leute mit sich und ihren Ressourcen umgehen. Ich bin optimistisch und glaube, dass sich die Zukunft der Gastronomie darüber definiert, dass man sich um seine Gäste mehr kümmert als je zuvor. Ich bin überzeugt, dass die Menschen weiterhin einen Bezug zu demjenigen oder zu derjenigen haben wollen, der sie bekocht. 

Kochst du zuhause? 


Zuhause zu kochen, ist für mich völlig indiskutabel. Ich bestelle gern Essen und bin auch ein sehr netter Gast, beschwere mich nicht. Wenn es mir nicht gefällt, gehe ich nicht wieder hin, und wenn es mir gefällt, komme ich ganz oft. Und dann bringe ich meine eigenen Gläser mit. Für mich ist es ein richtiger Fetisch, welcher Wein in welches Glas kommt. 

Treibst du Sport?

Ich mache viermal die Woche Sport, aber vor der Krise hätte ich nie geglaubt, dass ich mal Sport via Zoom-Meeting treiben würde. Ein Fitness-Coach macht mit mir solche Spacko-Übungen, wo ich immer denke, ich sehe aus wie der Vollpfosten. Das hat aber meinen ganzen Rumpf stabil gehalten. Und ich mache Yoga. Nicht so oft wie ich sollte, aber es hilft mir, Ruhe zu finden. Ich würde auch total gern wieder Fußball spielen, aber dazu fehlt mir die Zeit. Der schönste Ausgleichssport für mich jedoch ist Shoppen gehen. Damit kann ich die 10.000 Schritte am Tag schaffen, und ich habe Freude daran, schöne Sachen zu entdecken. Stoffe anzufassen, Gläser und Porzellan anzuschauen. Ein Teller setzt bei mir sofort Assoziationen frei, was man darauf anrichten könnte. Ich fotografiere die Sachen mit dem Handy, schreibe meine Gedanken dazu auf. Ich mag auch Fashion und habe ein Bedürfnis nach Stoffen, die den Körper sehr zart umhüllen. Damit kompensiere ich natürlich, was mir als Kind gefehlt hat. Egal wohin mich die Arbeit treibt, ich sorge immer dafür, dass ich dort vor dem Rückflug noch eine Chance zum Shoppen bekomme. Dabei bin ich nicht der Typ für Grand Luxury Brands. Ich gucke eher nach Sachen, die handwerklich gut gearbeitet sind und die Sinn machen. Geld ist für mich immer ein Tauschmittel für schöne Sachen. 

Großartig. Vielen Dank für das tolle Gespräch.

Restaurant Tim Raue
Rudi-Dutschke-Straße 26
10969 Berlin
tim-raue.com 

Kategorie: Menschen
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