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DIESES JAHR IN KARLSBAD

Das alte Europa der Kaiser und Fürsten – im tschechischen Karlsbad erscheint es noch ganz gegenwärtig. Moderne Wellness und klassische Bäderkultur vergangener Jahrhunderte gehen hier Hand in Hand, und das Stadtbild vermittelt das Gefühl einer Zeitreise. CHAPEAU verband den Trip in die Belle Époque mit einem Besuch beim örtlichen Filmfestival.

Info – Der tschechische Kurort Karlsbad, in der Landessprache Karlovy Vary, hat etwa 49.000 Einwohner. 1370 erhob Kaiser Karl IV. den wegen seiner Thermalquellen bekannten Ort zur Königsstadt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Deutschböhmen der neu gegründeten Tschechoslowakei zuerkannt. 1938 wurde Karlsbad von Nazi-Deutschland annektiert, 1945 wurde die deutschböhmische Bevölkerung weitgehend vertrieben. Seit dem Ende der sozialistischen Regierung 1989 wurde der Kurbetrieb wieder internationalisiert. Das Internationale Filmfestival Karlovy Vary besteht seit 1946 und verkauft in jedem Jahr etwa 130.000 Tickets.

Aus Deutschland ist das Drama „Lara“ im Rennen. Regisseur Jan Ole Gerster ist zusammen mit einer größeren Crew angereist, darunter Hauptdarstellerin Corinna Harfouch (inzwischen als Beste Hauptdarstellerin des Festivals ausgezeichnet) und ihr Leinwandpartner Rainer Bock. Um Tickets für den Film zu bekommen, sind wir zu spät dran – alle Vorstellungen ausverkauft. Kein Wunder. Von Ticketpreisen von unter vier Euro können wir hierzulande nur träumen. Dafür ergattern wir noch letzte Karten für Jim Jarmuschs Zombiefilm „The Dead Don’t Die“ und für das österreichische Filmexperiment „Die Kinder der Toten“ am selben Tag – eine Adaption des gleichnamigen Romans von Elfriede Jelinek, auf 8-mm-Film gedreht – und auch mit Zombies. Zufall oder nicht? Automatisch denken wir an die untoten Gestalten aus „Letztes Jahr in Marienbad“ und taumeln zurück ins Sonnenlicht. Zurück ins Leben. Überall fröhlich plaudernde junge Leute, die nach Karten anstehen oder sich vor den ausverkauften Vorführsälen niedergelassen haben, um vielleicht doch noch einen freien Platz zu bekommen. Wenn nicht, wird trotzdem gefeiert. Die Open-Air-Bars rund um das Festivalzentrum im Hotel Thermal laufen bis in die späte Nacht im Hochbetrieb. Das Thermal ist ein Hochhaus und eines der wenigen Relikte der realsozialistischen Brachial-Architektur der siebziger Jahre. Mitten in der Altstadt wirkt dieser profane Hochbau wie ein Raumschiff aus einer anderen Welt. Aber mit seinem Roten Teppich und dem breiten Aufgang zum Festivalsaal, der von zwei überdimensionalen Kristallglobusfiguren gesäumt ist, funktioniert auch diese Scheußlichkeit als Touristenmagnet. Man hat die Handys gezückt und wartet auf Stars. Julianne Moore war gestern da, ist aber schon wieder weg. Die drei unbekannten Filmschaffenden aus Ostasien, die da gerade aus der Limousine steigen und sich auf der Treppe den Fotografen stellen, wecken bei den Schaulustigen nur wenig Interesse. Immerhin spenden sie einen kleinen Höflichkeitsapplaus.
Es ist später Nachmittag, die Sonne brennt noch heiß – jetzt ist die Zeit für’s erste Bier. Das tschechische Bier ist völlig zu Recht hoch gelobt. Pilsner Urquell, frisch gezapft, der Halbliter-Humpen für gerade einmal 50 Kronen, umgerechnet zwei Euro. Da darf es gern noch ein zweites Glas sein. Danach geht es ab zum Essen. Böhmische Küche im „Schwejk“, Gulasch mit Knödeln. Lecker, obwohl die Stadt immer noch unter knapp 30 Grad Hitze stöhnt. Das Zentrum von Karlsbad liegt in einem Talkessel und erstreckt sich entlang des Flusses Tepá. An beiden Seiten der Uferpromenade ziehen sich steile Gassen, Gänge und Treppen bergauf. Wer ein rückwärtiges Hotelzimmer mit Blick auf die Hügel hat, dem kann passieren, dass selbst noch im vierten Stock ein steiler Weg geradewegs an seinem Fenster vorbeiführt.

Warum ausgerechnet Karlsbad? Den Anlass lieferte ein Filmklassiker: Regisseur Alain Resnais entwarf 1961 mit „Letztes Jahr in Marienbad“ die Szenerie eines barocken Luxushotels, in dem sich die vornehmen Gäste wie Spielfiguren durch prächtige Räume und gepflegte Gärten bewegen und fast durchgehend in Vergangenheitsformen reden. Ist dieser Ort real? Sind oder waren die Leute wirklich da, wo sie zu sein glauben – oder zu sein glaubten? Wie im Traum vermischen sich verschiedene zeitliche und räumliche Ebenen, als ob sich Gegenwart und Vergangenheit hier nicht voneinander trennen lassen.
Wir waren neugierig, ob wir auch in dem klassischen Kurstädtchen Karlsbad – oder Karlovy Vary, wie es auf Tschechisch heißt – einen Hauch dieser vergangenen Epoche spüren und uns ein wenig in der Zeit verlieren können.

Karlsbad ist ein klassischer Kurort, der wegen seiner heißen Thermalquellen schon Mitte des 14. Jahrhundert von Kaiser Karl IV. gegründet wurde. Große Persönlichkeiten suchten hier im Laufe der Jahrhunderte Erholung und Heilung, darunter Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Johann Wolfgang von Goethe oder Anton Dvorak. Seine Blütezeit erlebte Karlsbad jedoch – ebenso wie das nur wenige Kilometer entfernte Marienbad – während der K.u.K.-Monarchie im späten 19. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. Der europäische Adel und das Großbürgertum gaben sich hier ein Stelldichein, um es sich gut gehen zu lassen und die damaligen Formen der Wellness-Kultur zu genießen. Nicht nur prachtvolle Luxushotels wie das Grand Hotel Pupp oder das Ambassador zeugen von dieser Zeit. Das Stadtbild insgesamt wirkt mit seinen jahrhundertealten Bauten und den sorgfältig restaurierten Fassaden, als sei das alte Europa des Hochadels nie untergegangen. Zahlreiche Reisegruppen aus Japan und China ziehen durch die Straßen, um traditionelle europäische Stadtkultur aufzusaugen. Das hier ist echt, kein Las Vegas oder Disneyland. Anfang Juli ist Filmfest-Zeit in Karlsbad. Die Stadt ist voller Menschen aus aller Herren Länder. Zu den Reisenden aus Fernost und den vorwiegend tschechischen und deutschen Kurgästen gesellen sich jetzt zahlreiche Cineasten, Filmschaffende, berühmte und unbekannte Schauspieler. Das achttägige Karlsbad Filmfestival findet in diesem Jahr bereits zum 54. Mal statt und gehört mit seinem internationalen Wettbewerb in die A-Kategorie weltweiter Filmfeste, spielt also in einer Liga mit Cannes oder der Berlinale. Von den fast 200 Filmen, die auf dem Festival gezeigt werden, bewerben sich 12 in der Wettbewerbssektion um den „Kristallglobus“, der Karlsbad-Variante des Berliner Goldenen Bären oder der Goldenen Palme in Cannes.

Im 19. Jahrhundert schrieb man dem Waser auch eine heilsame Wirkung bei Diabetes zu, und man überdachte die Quellen mit langen Colonnaden oder Pavillons. Noch heute bedienen sich die Kurgäste gern im Vorbeigehen aus diesen Quellen und trinken aus charakteristischen schmalen Bechern, die mit verschiedenen Verzierungen und Mustern in jedem Souvenirshop für kleines Geld angeboten werden. Unser kleiner Aufenthalt in Karlsbad neigt sich dem Ende zu, den Ausflug ins nahe Marienbad müssen wir verschieben. Vielleicht nächstes Jahr in Marienbad?

Wir nehmen die alte Seilbahn aus dem Jahr 1912, um nach oben zu kommen. Der Wagon fährt auf Schienen, wird aber von einem Seil gezogen. Auf dem Hügel angekommen, finden wir das idyllische Ausflugslokal „Diana“ vor. Auch hier gibt es einfache böhmische Küche zum kleinen Preis, das frisch gezapfte „Krušovice“-Bier kostet nur 1,50 Euro. Der benachbarte Aussichtssturm ist etwa 20 Meter hoch, und wer die 150 Stufen in der Hitze nicht hinaufsteigen will, nimmt den Aufzug. Von oben werfen wir einen weiten Blick in die Landschaft und auf das bunte Stadtpanorama, aber es weht ein heftiger Wind mit starken Böen. Unsere Mützen nehmen wir lieber ab.
Unten wartet wieder Kino auf uns. Genauer gesagt: die nächsten Vorstellungen. Kinos gibt es nämlich gar nicht so viele in Karlsbad, vor allem nicht im Zentrum. Neben den geräumigen Sälen im Thermal haben auch die alten Grand Hotels ihre herrlichen Ballsäle für die Zeit des Festivals zu Kinosälen umgestaltet. Parkett, Logen, Balkons – auch hier herrscht das Flair der guten alten Zeit. Wir schauen neue Filme wie „Lilliam“, ein Drama um ein russisches Mädchen, das versucht, von New York zu Fuß in die Heimat zurückzulaufen. Der amerikanische Dokumentarfilm „17 Blocks“ schildert über 10 Jahre hinweg das prekäre Leben einer farbigen Familie in der Hauptstadt Washington, nur wenige Häuserblocks vom Kapitol entfernt. Und der US-Kultfilmer Abel Ferrara („King of New York“, „Bad Lieutenant“) erzählt in „Tommaso“ die vermutlich autobiografisch geprägte Geschichte eines alkoholgeschädigten US-Filmregisseurs, der in Rom ein neues, bürgerliches Leben mit junger Frau und kleiner Tochter zu beginnen versucht. In der Hauptrolle: der großartige Willem Defoe.
Und was ist mit Kur und Wellness? Nicht unser Ding. Wir lassen uns lieber durch die Stadt treiben und genießen eine Tasse Kaffee und dazu ein riesiges Stück Himbeer-Baiser-Torte. Im 16. Jahrhundert sind die Leute tatsächlich angereist, um sich bei Extrem-Bade-Therapien bis zu 10 Stunden am Tag im 70 Grad heißen Wasser der Thermalquellen die vermeintlichen bösen „Körpersäfte“ aus dem Leib brennen zu lassen. „Hautfresser“, nannte man das damals. Der Arzt Doktor Georg Handsch, der 1571 als Begleiter der leberkranken Filippina Welser, Ehefrau des Thronfolgers Ferdinand II., nach Karlsbad gekommen war, notierte anschließend: „Gottseidank haben wir die Kur in Karlsbad überlebt.“ Im 18. Jahrhundert kam der Arzt Dr. David Becher auf die Idee, dass die Heilwirkung des Karlsbader Wassers möglicherweise mit seinem Mineralgehalt zusammenhängen könnte, und etablierte neben der Bade- auch ein Trinkkur. Die Nachfahren des Dr. Becher setzten dann aber lieber auf eine andere spirituelle Flüssigkeit. Ihnen verdanken wir den Kräuterschnaps „Becherovska“, der bis heute in Karlsbad hergestellt wird.

Kategorie: Events
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