Menschen QUEEN OF HEARTS – Every Story Matters
QUEEN OF HEARTS – Every Story Matters
Interview mit Deborah Kara Unger
Wir sitzen auf der Steintreppe vor dem Interviewgebäude, trinken Saft aus der Flasche und rauchen. Die Frau neben mir trägt Brille und Ugg-Boots, ihr Blick ist wach und interessiert, als würde sie einen von innen heraus ergründen wollen. Immer wieder schallt ihr lautes Lachen über den Platz – und wüsste ich es nicht selbst, ich käme nie auf den Gedanken, dass diese bodenständige Schönheit in über 60 Filmen mitgespielt hat und weltweit unzählige Fans um sich schart ...
Doch tatsächlich: Mitten in Oldenburg sitzt die von Kritikern gefeierte und preisgekrönte Deborah Kara Unger, die derzeit als Mitglied der Internationalen Filmauswahl Kommission den Beginn des 24. Oldenburger Filmfestes erwartet. Weltweit bei Cineasten für ihre „unbestreitbare Star-Qualität“ berühmt, brilliert Deborah Kara Unger „stark, sachte und ehrlich“ auf der Leinwand und „ruft Erinnerungen an Barbara Stanwyck hervor“, wie ihr das renommierte „National Board of Review“ bescheinigte. Sie debütierte mit Russell Crowe und spielte neben Kino-Größen und Oscar-Preisträgern
wie Sophia Loren, Michael Douglas, Mel Gibson, Denzel Washington, Sir Ian McKellen, Gena Rowlands, Holly Hunter, Nicole Kidman, Al Pacino, Nicolas Cage, John Travolta, Scarlet Johansson, Rachel Weisz, Evan Rachel Wood, Val Kilmer, Michael Keaton, Sean Penn und dem kürzlich verstorbenen Sam Shephard – von der noch längeren Liste namhafter Co-Stars ganz zu schweigen.
Natürlich brenne ich darauf, die Schauspielerin kennenzulernen – vor allem aber bin ich neugierig zu erfahren, wie es ihr gelingen konnte, ihr Leben vor den gierigen Augen der Öffentlichkeit zu schützen. Die Antwort darauf erfahre ich gleich am eigenen Leibe: Deborah Kara Unger, die sich nur sehr selten für Interviews bereiterklärt, dreht einfach den Spieß um und beginnt ihrerseits, mich auszufragen: Woher ich komme, was mich nach Oldenburg verschlagen hat, wie ich mein Geld verdiene … Als sie hört, dass ich Opernsängerin am Staatstheater bin, jubelt sie und verrät mir endlich ein Detail jenseits ihrer Wikipedia-bekannten Biografie: Ihre Lieblingsoper sei Pique Dame ...
Melanie Lang: Wow, eine Oper von Tschaikowski? Die meisten Menschen beginnen mit etwas Einfacherem – Mozart zum Beispiel.
Deborah Kara Unger: Ach, die Oper ist eine meiner geheimen Leidenschaften. Ich liebe Bizets „Perlenfischer“ und die Sopranistin Kiri Te Kanawa. (seufzt) Sie ist einfach umwerfend! Als ich damals in Budapest den Film Sunshine mit Ralph Fiennes gedreht habe, hat mich István Szabó durch die Straßen geführt und mir die zerstörten Gebäude gezeigt, die immer noch von der Ungarischen Revolution von 1956 zeugen. Wir liefen auch am Opernhaus vorbei, und davor stand ein Mann, der irgendetwas vor sich hinmurmelte. Ich verstand etwas wie: „Ah, ich würde gerne in die Oper gehen.“ Natürlich kannte ich ihn nicht, erwiderte aber: „Großartig, wollen Sie eine Begleitung?“ Die Antwort lautete Ja, und so begleitete ich „Charles“ zur Premiere von „Pique Dame“. Erst Jahre später hat sich dann herausgestellt, dass mein Kumpel „Charles“ einer der wohl reichsten Männer der Welt ist! Charles Simonyi, der Microsoft Milliardär, der 25 Millionen Dollar für einen 13-tägigen Aufenthalt auf der Internationalen Raumstation bezahlt hat. Eine Geschichte fast wie in der Oper, oder? (lacht)
Die Pique Dame gilt als „Königin des Kartenblattes“. Würdest du dich denn selbst auch als „Herz-Dame“, das heißt als „Königin der Herzen“ bezeichnen?
(lacht) Nein, die Kronen dürfen andere tragen ... Doch, halt! Wenn ich die Bezeichnung umdrehe, stimmt sie vielleicht doch: Ich bin sicher keine Königin, mein Herz aber fühlt sich manchmal durchaus königlich – wenn es von der Demut, dem Heldentum und der außergewöhnlichen Einzigartigkeit eines Menschen inspiriert wird. Das ist ja auch der Grund, warum ich den Film so liebe. Jeder Einzelne ist hier wichtig, und jede Geschichte zählt. Und ich begeistere mich nun einmal sehr für Orte und Menschen aller Art.
Ja, du bist durch die ganze Welt gereist und hast in über 30 verschiedenen Ländern gedreht. Trotzdem gelang es dir, dein Privatleben von den Medien fernzuhalten …
Da mein Privatleben nicht mein öffentliches Leben beeinflusst, würde es mir niemals einfallen, meine Freunde oder Familie für ein bisschen Aufmerksamkeit auszunutzen. Das mindert doch den Wert eines der wichtigsten Güter im Leben eines Menschen – der Privatsphäre! Ich interessiere mich nicht für Ruhm, ich bin Schauspielerin geworden, weil ich den Film liebe. Die Schauspielerei wiederum hat mir die Tür geöffnet, das Leben durch die Augen anderer zu sehen.
Apropos Augen: Es heißt, du wurdest als Kind von „Augen“ verfolgt …
(lacht) Ja, von vielen Augen. Meine Tante war mit einem Künstler verheiratet, dessen Werke immer wieder Augen abbilden – Walter Keane. Vielleicht kennt ihn der eine oder andere aus dem Film „Big Eyes“, in dem ihn Christoph Waltz verkörpert. Bei Familienfeiern meiner Mutter war ich also immer umzingelt von „großen Augen“. Gott, wie habe ich das gehasst.
Fließt nicht auch ein wenig deutsches Blut in deinen Adern?
Ja, mein Großvater war deutscher Pfarrer der Mennonitenkirche, und die Eltern meiner Großmutter wohnten in Russland inmitten der bolschewistischen Revolution. Sie waren Ärzte, und jedes Mal, wenn die Zaristen oder Bolschewisten kamen, mussten sie ihre Flagge ändern, da sie es als ihre Aufgabe ansahen, allen Menschen, egal, welcher politischen Richtung, zu helfen. Sie waren ziemlich wohlhabend, und meine Oma Alice durfte sich zur klassischen Pianistin ausbilden lassen – ein absoluter Luxus in der damaligen Zeit. Eines Nachts forderten meine Urgroßeltern sie auf, sich im Kamin zu verstecken – sie befürchteten wohl einen Anschlag. Meine Oma war die Älteste von elf Kindern und musste zuerst in den Kamin, weil sie die längsten Beine hatte – lange, deutsche Beine. (lacht) Die anderen Kinder kletterten dann auf sie drauf. Die Revolutionäre haben die ganze Familie getötet –die Kinder aber konnten dank des Verstecks im Kamin überleben und landeten in Kanada. Meine Oma hat damals alles verloren, nicht zuletzt auch ihre Karriere als Pianistin. Sie fing als Putzfrau neu an und war plötzlich das Gegenteil von wohlhabend und behütet. So etwas verändert eine Person, es beeinflusst dein Einfühlungsvermögen, deine Menschlichkeit, dein Wertesystem.
Wie kamst dann du zur Schauspielerei?
Es hat mich schon immer fasziniert, wie man die Welt durch verschiedene Augen betrachten kann. Ah, da sind wir wieder bei den Augen ... (lacht) Aber eigentlich wurde ich zum Schauspielunterricht gezwungen, um meine Schüchternheit zu überwinden, und hätte im Leben nicht davon geträumt, dass das einmal mein beruflicher Werdegang werden könnte. Es fiel mir immer leicht, Texte auswendig zu lernen, und als wir in der fünften Klasse das Weihnachtsmärchen „A Christmas Carol“ aufführten, war es meine Aufgabe, dem Hauptdarsteller beim Textlernen zu helfen. Am Abend der Premiere bekam der arme Junge allerdings Lampenfieber und meldete sich krank. Da ich die Einzige war, die seinen Text konnte, steckte mich die Lehrerin in sein Kostüm und schubste mich auf die Bühne. So wurde meine erste Rolle ein grantiger, alter Mann (lacht).
Wir verlagern uns von den Treppen nach innen, und Deborah Kara Unger ahmt meinen britischen Akzent perfekt nach, um anschließend sofort in einen australischen Slang zu verfallen. Ich bin beeindruckt und fange an zu lachen.
Dass einer Schauspielerin britisches Englisch geläufig ist, wundert mich nicht, aber woher kommt dieser makellose australische Akzent?
Als ich 16 Jahre alt war, studierte ich schon Wirtschaftslehre und Philosophie – ich wollte unbedingt für die Vereinten Nationen arbeiten. An einem Wochenende zeigten sie auf dem Campus australische Filme wie „Ein Jahr in der Hölle“ und „Picknick am Valentinstag“. Ich war vollkommen hin und weg! Ich rannte sofort los und kaufte mir von meinem hart Ersparten ein Flugticket nach Australien, um dort für die berühmte Schauspielschule National Institue of Dramatic Art vorzusprechen. Nie hätte ich gedacht, dass ich genommen werden könnte. Immerhin gibt es dort nur 15 bis 20 Plätze und Tausende von Bewerbern. Doch das Wunder geschah, und ich bestand die Aufnahmeprüfung! Damals änderte sich mein ganzes Leben. Trotzdem ist es mir immer wieder wichtig zu betonen, dass mein Ziel nie Hollywood hieß! Ich ging nach Australien, um das Land und seine Menschen kennenzulernen. Ich hatte immer schon Interesse an der Komplexität menschlicher Charaktere und der Kunst, Geschichten zu erzählen – besonders durch das Medium des Films. Denn Film ist meiner Meinung nach eine der wirkungsvollsten Möglichkeiten, kulturelle Lücken zu schließen. Ein Film kann wichtige Einblicke in die Gesellschaft gewähren und manchmal sogar effektivere Veränderungen hervorrufen als die Politik.
Kannst du uns ein Beispiel nennen? Bei welchem deiner Filme hattest du das Gefühl, die Welt wenigstens ein kleines bisschen verändern zu können?
Mein allererster Film war „Prisoners of the Sun“ an der Seite von Russell Crowe. Der Plot beruht auf einer wahren Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg und behandelt australische Soldaten in japanischer Kriegsgefangenschaft. Damals kamen Angehörige der Überlebenden zur Premiere und waren zu Tränen gerührt. Sie dankten uns, dass wir das schwere Schicksal ihrer Liebsten so honorierten und nicht in Vergessenheit geraten ließen. Das war das erste Mal, dass die Macht der Leinwand mich auf persönliche Art berührte ... Und sicher nicht das letzte! Ich habe sogar noch ein schönes Beispiel aus Oldenburg: In der Lambertikirche habe ich vor ein paar Jahren meinen Film „Dein Weg“ mit Martin Sheen vorgestellt. Der Pastor hielt eine rührende Rede, und im Anschluss gab es neun Minuten lang Standing Ovations. Ein paar Tage später war ich auf dem Lamberti-Weihnachtsmarkt auf der Suche nach kleinen Geschenken für meine Familie in Kanada. Es war schon spät, der Markt sollte gleich schließen, und die Verkäufer packten schon zusammen. Da entdeckte ich kurz vor knapp einen Stand mit wunderschönen Sternleuchten. Der Verkäufer war nicht besonders glücklich, so kurz vor Feierabend noch gestört zu werden. Widerwillig baute er mir einen Stern zusammen, als er mich plötzlich erkannte. „Ich habe Sie in diesem Film gesehen!“ Er und seine Frau hatten im Sommer zuvor ihre Tochter verloren, standen kurz vor der Trennung und waren emotional total am Ende. „Dein Weg“, der den Verlust eines Kindes beleuchtet, hatte ihnen wieder ein wenig Hoffnung geschenkt. Mit Tränen in den Augen bedankte er sich bei mir, und mir wurde klar: Wenn ich auch nur einem Menschen mit meinen Filmen weiterhelfen kann, hat sich alles gelohnt. Weißt du: Der Film hat die Macht, uns zum Denken anzuregen und unsere Sichtweisen zu ändern. Ich glaube, er kann sogar unsere Empathie für unsere Mitmenschen steigern. Deshalb schätze ich Filmfeste, die Independent-Filmen und Nachwuchsregisseuren eine Plattform geben. Nur so können neue Sichtweisen den Markt erobern. Und das ist meines Erachtens auch das Besondere an dem Internationalen Filmfest Oldenburg.
Zu diesem Festival hast du eine ganz enge Verbindung: Dein Verlobter Torsten Neumann ist der Gründer des Internationalen Filmfestes, und du besuchst es nun schon im siebten Jahr. Ist Torsten der einzige Grund, warum du immer wieder nach Oldenburg zurückkehrst?
Nicht der Einzige. (lacht) Ich liebe es hier. Viele Oldenburger wissen gar nicht, dass das Filmfest international bekannt ist und von Zeitschriften wie „Der Hollywood Reporter“ und „Variety“ als „Europäischer Sundance“ und „Europas wichtigstes Indie Fest“ ausgezeichnet wurde. Ich war viele Jahre Vorsitzende der Filmfest-Jury und bin in diesem Jahr zum ersten Mal Mitglied der Internationalen Filmauswahl Kommission.
Deborah Kara Unger hat unzählige Aufgaben für das Filmfest zu erledigen, und somit findet unser Interview ein Ende. Ähnlich wie ihre Rolle in „Dein Weg“ ist Deborah Kara Unger eine bewanderte Frau mit tiefer Ehrfurcht vor dem Leben; ihre Weltanschauung verändert sich ständig durch die Geschichten anderer Menschen. Sie fügt noch hinzu, dass jeder Mensch wie eine Schneeflocke sei – einzigartig und schön. Sie fragt, ob sie mich singen hören kann, also verspreche ich ihr eine Arie. Vielleicht kann ich ihr ja etwas aus „Pique Dame“ anbieten – und auch wenn sie sich selbst diesen Titel nicht geben will, für mich ist sie auf jeden Fall eine Herz-Dame.