Kolumne Reiner Wutfried: Alles fließt

Reiner Wutfried: Alles fließt

Ein Ausbruch von Reiner Wutfried

Ganz ehrlich, ich finde es wirklich sehr schön, dass es nicht mehr so kalt ist in diesem Land. Da muss wenigstens kein Obdachloser mehr erfrieren. Und noch eine ganz famose Nachricht: Wir sind spitze!! Ja!! EU-weit ist Deutschland die Nummer Eins – beim Armutsrisiko aufgrund von Arbeitslosigkeit. Hoch die Tassen, Kameraden! 70,8 Prozent der Arbeitslosen sind von Armut bedroht, insgesamt in der EU nur knapp 50 Prozent. Das ist doch mal eine vorzeigbare Outperformance! Da kann eine marktkonforme Demokratie doch stolz sein, solche Werte zu erreichen. Das wird sich dann hoffentlich noch verstetigen, denn derzeit sind wir beim Armutsrisiko wegen Alter noch läppisch auf EU-Durchschnitt. 20,5 Prozent der über 55-Jährigen sind von Armut und Ausgrenzung bedroht. Da ist Luft nach oben. Aber, hey! Unsere Rentenpolitik ist da ja eifrig bei der Sache, das läuft schon, keine Sorge.

Es ergibt aber, verdammt nochmal, wirklich Sinn, schon in jungen Jahren um den Mindeststandard kämpfen zu müssen. So eine kleine Arbeitslosigkeit bereitet hervorragend auf spätere Verteilungskämpfe vor. Zumindest, wenn bei diesen nicht der Wettbewerb ausgeschlossen wurde wie bei der Essener Tafel. Da werden nur noch Bedürftige mit deutschem Pass neu aufgenommen. Merke: Du musst schon Zuhause verarmen und dich nicht erst mit westlichen Waffen aus deiner Heimat wegbomben lassen, wenn du um die Reste der Überflussgesellschaft kämpfen dürfen willst. Arm ist halt nicht gleich arm …

Wir müssen aber natürlich auch den Tatsachen ins Auge sehen. Die Wirtschaft wächst, die öffentlichen Haushalte haben vier Jahre lang in Folge Milliardenüberschüsse erwirtschaftet. Da muss man auch mal respektieren, dass zunächst die öffentliche Infrastruktur dran war. Wann hat man zuletzt Baustellen auf Autobahnen gesehen? Hat die Bahn sich im Winter nur eine Sekunde verspätet? Ach, und was für (digitale) Paläste unsere Schulen geworden sind. Und auf einmal gibt es in jeder Familie mindestens einen Polizisten und jeder will Pflegefachkraft werden aufgrund der sensationellen Bezahlung. Das ist so ein wunderschöner Traum, aus dem ich nie aufwachen möchte.

Leider bin ich aber aufgewacht.

Schauen wir doch mal ganz wach und ausgeschlafen auf das Soziale. Hier müssen wir wohl nur weiter darauf warten, dass das Versprechen der trickle-down-Theorie endlich wahr wird! Sie wissen schon: Erst müssen die Reichen reicher werden, damit der Wohlstand über die Mittelschicht sogar bis zu den Armen durchsickert. Nur Geduld, wir warten doch erst seit Reagan und Thatcher darauf. Oder seit dem Schröder-Blair-Papier. Sind ja erst 20 Jahre vergangen, braucht wohl noch etwas Zeit. War ja auch doof zwischendrin, Finanzkrise und so. Da mussten die Reichen Federn lassen, da war nix mit Drittporsche. Aber jetzt, ja, jetzt läuft es doch wieder viel besser! Und zwar so: der Konzern wird verschachtelt und in irgendwelche Stiftungen verpackt. Die Gewinne werden dann dahin geschoben, wo die Besteuerung ungefähr das Niveau der Rente eines Facharbeiters hierzulande hat.

Die Manager dagegen schieben ihre Millionen ins wilde Offshordistan. Und wenn sie dann irgendwann vor lauter Schotter nicht mehr geradeaus laufen können, entdecken sie ihre wohltätige Seite und spenden auf einmal total großzügig und lassen sich als Wohltäter feiern. Ja, wie geil ist das denn bitte?!

Liebe Freunde, was rege ich mich eigentlich auf?
Immerhin haben wir ja eine stabile Regierung.

Ach ja:
DIE WOLLEN MIR MEINEN DIESEL WEGNEHMEN!!!!!!!!

Kategorie: Kolumne
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