Kolumne Schmerz, Teil 1
Schmerz, Teil 1
Schmerz – tut’s weh?
Der Oldenburger Heilpraktiker, Sportosteopath und Physiotherapeut Renato Dirks behandelt u.a. FDM® (Faszientherapie nach Typaldos) und Schmerzen nach Liebscher und Bracht. Die Methode setzt darauf auf, dass der Mensch in der modernen Arbeits- und Bürowelt nur einen kleinen Prozentsatz seiner Muskel- und Gelenksysteme nutzt und die meisten unserer Muskeln und Fasern durch Nichtbenutzung unnachgiebiger werden. Sie „rosten“. Bei ungewohnten Bewegungen baut der Körper Gegenspannungen auf, durch den Druck entsteht Verschleiß an Bandscheiben, Knorpeln und Knochen, und das Gehirn reagiert mit Schmerzmeldungen. Wie sich das auf Körper im Einzelnen auswirkt, berichtet Renato Dirks in einer dreiteiligen Chapeau-Serie aus seiner Praxis.
Info – Renato Dirks, 54, ist Schmerztherapeut nach Liebscher und Bracht, Heilpraktiker, Sportosteopath und bereits seit 1994 Physiotherapeut. Er ist auf Norderney geboren, spielte Handball in der zweiten Bundesliga und nahm vier Mal an den Ironman-Weltmeisterschaften auf Hawaii teil. Die Privat-Praxis für ganzheitliche Physiotherapie in Oldenburg betreibt Renato Dirks gemeinsam mit seiner Frau Silvia.
Infos unter
www.bewegung-im-ganzen.de
www.einfach-einfach.eu
Viele Menschen haben täglich Schmerzen. Nach einem Bericht der DAK *1 leiden 75 Prozent aller Arbeitnehmer regelmäßig unter Rückenschmerzen, jeder siebte sogar chronisch. Manche Patienten kommen sogar mit drei verschiedenen Schmerzproblemen in unsere Praxis.
Quellennachweise: *1 Marschall, J.Hildebrandt, S.Zich, T.Sörensen. Gesundheitsreport 2018 DAK.
Ein Beispiel: Ein Patient, 48 Jahre, hat sitzende Tätigkeit, viel Stress, Übergewicht und treibt keinen Sport. Er klagt:
― „Rücken habe ich schon lange und immer wieder, damit muss ich wohl leben.“
― „Ab und zu bekomme ich Schulter- oder Knieschmerzen, nicht durchgehend, aber bei bestimmten Bewegungen.“
― „Akut habe ich einen „Fersensporn.“
Wie kommen alle diese Probleme zustande, auch bereits in jungen Jahren? Warum nehmen Schmerzleiden in Deutschland so dramatisch zu, obwohl unsere medizinische Versorgung doch zu den besten der Welt gehört?
In unserer Praxis machen wir die Erfahrung, dass man im medizinischen Alltag vielen Patienten nicht richtig zuhört. Das hat verschiedene Gründe – Zeitmangel, die Kosten, mangelnde Empathie sind davon nur einige. Auch wird der Patient meist nicht optimal mit in den Heilungsprozess eingebunden.
Wir gehen davon aus, dass fast 90 Prozent aller Schmerzen einen myofaszialen Ursprung haben, die auch gut ohne Medikament oder Operationen therapiert werden können. Wenn der Patient gut aufgeklärt, richtig behandelt ist, er das auf ihn abgestimmte Programm täglich umsetzt und er Verantwortung für seine Heilung übernimmt, hat er große Chancen auf dauerhafte Schmerzfreiheit.
„In der Ruhe liegt die Kraft“ – diese scheinbar banale Redensart kommt aus der Erkenntnis, dass Ruhelosigkeit und Stress den Menschen lähmen und ihm viele körperliche wie auch seelische Beschwerden verursachen. Im Durchschnitt verbringt jeder Deutsche etwa 8 bis 11 Stunden des Tages im Sitzen und nur rund fünf Stunden im Schlaf. Anspannung und Stress in Verbindung mit wenig Bewegung und einer nicht optimalen Ernährung führen zu einer Verschmelzung von Negativfaktoren, die in der menschlichen Entwicklungsgeschichte beispiellos ist.
Anspannung und Stress werden durch einen Teil des vegetativen Nervensystems gesteuert, der Sympathikus genannt wird. Damit wir uns erholen können, aktiviert der Körper einen Gegenspieler. Der Parasympathikus sorgt für Entspannung, Regeneration und „ Auftanken“. Im parasympathischem System ist vor allem der vordere Ast des Vagus-Nervs gefragt. Der kann Signale besonders schnell weiterleiten und spielt daher eine maßgebliche Rolle für unser soziales Kommunikationssystem, für die Zuwendung zu anderen Menschen und für das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Aufgrund von anhaltendem Stress, chronischer Überlastung und Überforderung in Beruf, Familie oder auch im Sport kommt es heutzutage nicht selten zu einer Blockade dieser heimlichen Schaltzentrale im menschlichen Nervensystem. Ist die Funktion des ventralen Vagus-Astes aber gestört, kann sich der Köper nicht erholen, reparieren und regenerieren. Er bleibt im Zustand der Überreizung gefangen, physiologische Heilprozesse unterbleiben und in der Folge entstehen viele zahlreiche Krankheiten.
In unserer Praxis überprüfen wir in der Regel als Erstes, ob der Vagus seine Arbeit leistet oder nicht. Dafür gibt es einen einfachen Pulstest und einen etwas aufwendigeren Zapfentest, den aber auch jeder bei sich selbst durchführen kann.
Die Überprüfung des Rachenastes erfolgt über den sogenannten Gaumensegelhebermuskel (Levator veli palatini ). Der sollte den weichen Gaumen nach oben ziehen, wenn wir kurz die einzelnen Laute „ah-ah-ah-ah“ sagen. Das Zäpfchen sollte symmetrisch nach oben ziehen, wie in der Bild dargestellt. Zieht es nur auf einer Seite nach oben, ist die Funktion des Rachenastes auf der Seite gestört, die nicht nach oben sieht. Er sollte nach der unten beschreiben Augenübungen wieder in der Mitte stehen.
Dazu empfehle ich eine einfache Übung *2, die wir jeden Morgen im Liegen im Bett ausführen können. Wir überprüfen im Anschluss die Beweglichkeit der Halswirbelsäule (HWS) und ob sich der Zapfen wie im Bild in der Mitte befindet.
Quellennachweise: *2 Stanley Rosenberg, Der Selbstheilungsnerv VAK VerlagsGmbH Bildernachweis: Adobe Stock
Die Arme sind hinter Hinterhaupt angewinkelt – aber nur, wenn man keine Schulterprobleme hat. Dann schauen wir für 60 Sekunden nach links, ohne den Kopf zu bewegen. Danach geht der Blick langsam wieder in die Mitte und dann das Gleiche zur anderen Seite, auch ohne Kopfbewegung. Wenn wir dabei seufzen, gähnen oder schlucken müssen, ist das ein Zeichen dafür, dass sich das autonome Nervensystem entspannt hat. Häufig ist danach auch die Beweglichkeit der HWS deutlich besser, und auch die Nackenverspannungen lassen nach. Es kann sich auch ein leichtes Schwindelgefühl einstellen, das sich aber nach zwei bis drei Minuten wieder legt.
Das Modell zeigt grob den Verlauf des Vagus-Nervs (gelb) mit seinem vorderen und hinteren Ast sowie seine Innervationsgebiete dargestellt.
Aber was ist eigentlich Schmerz?
Grundsätzlich ist der Schmerz myofaszialen Ursprungs die beste Einrichtung unsers Körpers, um unseren Bewegungsapparat vor irreparablen Schäden zu schützen. Ein „Alarmsystem“, das wir in drei Kategorien einteilen:
1. Muskelkaterschmerzen
Den Muskelkater kennt wohl jeder. Durch Überlastung entstehen in den sogenannten Z-Scheiben des Muskelgewebes kleine Risse (Mikrotraumen), die zu Entzündungen und zum Eindringen vom Gewebswasser (Ödemen) führen. Es kommt zum Anschwellen des Muskels.
Ein sofortiger Schmerz stellt sich nicht ein. Der Körper benötigt 12 bis 24 Stunden, um die durch die Mikrotraumen gebildeten Entzündungsstoffe auszuspülen und dann zu reparieren.
2. Alarmschmerz
Der von Liebscher und Bracht® entdeckte und so getaufte „Alarmschmerz“ ist ein vom Gehirn erzeugtes Signal, das die Aufgabe hat, vor Bewegungen oder Positionen zu warnen, die Teile des Körpers nachhaltig schädigen. Geschädigt werden können beispielsweise Bandscheiben, Gelenke, Sehnen, Bänder und sogar Organe. In der Folge können sich Arthrose, Bandscheibenvorfall, Spinalkanalstenosen, Gelenkschäden, chronische Entzündungen und vieles mehr entwickeln. Um das zu verhindern, sind überall im Körper „Zustandsmelder“ eingebaut. Diese Rezeptoren messen ständig Zugspannungen, Druck und Bewegungsgeschwindigkeiten und melden alle Daten an das Zentralnervensystem im Gehirn.
3. Zerstörungsschmerz
Der Name sagt es bereits: Der „Zerstörungsschmerz“ kann vom Menschen nicht dauerhaft toleriert werden, denn er führt potenziell zu einer Gewebeschädigung bis hin zu irreparablen strukturellen Schädigungen. Leider jedoch versuchen sehr viele Menschen ihn mittels Medikamenten, Hilfsmitteln wie Bandagen, Einlagen oder Gehhilfen und sogar mit Genussgiften – an erster Stelle Alkohol – so einzudämmen, dass die stark eingeschränkte Lebensqualität zu ertragen ist – unabhängig von den zu erwartenden Nebenwirkungen! In der Folge wird unser natürliches Schutzsystem zunehmend aufgehoben oder unterwandert. Es können Schäden entstehen, die der Köper dann selbst nicht mehr selbst zu reparieren vermag.
Die Übungen des Vagusnerven sind die Grundvoraussetzung dafür, dass der Körper überhaupt ins Gleichgewicht kommt um somit reparieren und heilen kann.
Welche Einwirkungen die Faszien bei Schmerzen haben und warum „Sitzen das neue Rauchen ist“, erklären wir in der nächsten Ausgabe anschaulich und empfehlen dazu einfache, aber hochwirksame Übungen aus der neuesten Faszienforschung.