Lebensart „JA, ICH GELTE ALS SCHWIERIG.“

„JA, ICH GELTE ALS SCHWIERIG.“

Interview mit Thomas Stiller

Der Regisseur und Drehbuchautor Thomas Stiller gilt als Enfant terrible der Fernsehbranche. Mit klaren Ideen von Stoffen, die er erzählen und umsetzen will, eckt er in der TV-Branche immer wieder an. Aber: Den Zuschauern gefällt’s. Das weiß man auch in Oldenburg, wo Stiller auf dem diesjährigen Filmfest seine „Tatort“-Folge „Bombengeschäft“ vorstellte. Im Interview mit CHAPEAU-Reporter Lars Görges zeigt sich Thomas Stiller als eigenwilliger, hellwacher Kopf, der Mittelmäßigkeit den Kampf angesagt hat.

INFO
Der Regisseur und Drehbuchautor Thomas Stiller ist 1961 in Wiesbaden geboren, lebt und arbeitet jetzt in Berlin. 1985/86 absolvierte er eine Schauspieler- und Regieausbildung in New York. Sein Debütfilm „Die brennende Schnecke“ (1995) lief u.a. auf Filmfestivals in Montreal, Shanghai und Moskau. Stillers Weihnachtsthriller „Stille Nacht, Heilige Nacht“ (1999) wurde für den Adolf-Grimme-Preis nominiert. Thomas Stiller inszenierte die Kinofilme „Der Junge ohne Eigenschaften“ (2006) und „Die Haut der Anderen“ (2018) sowie auch zwei Trailer für das Oldenburg Filmfest. Bekannt ist Stiller vor allem für seine Fernsehfilme, darunter „Zwölf Winter“ (2010) oder bislang sechs „Tatort“-Episoden. Im vorigen Oktober zeigte die ARD seinen Gefängnisthriller „Angst in meinem Kopf“, in dem sich Claudia Michelsen in der Rolle einer Vollzugsbeamtin der zunehmenden Drangsalierung eines Häftlings ausgesetzt sieht.

CHAPEAU: Tom, ich bin mir nicht sicher in welcher Reihenfolge es richtig ist: Du bist Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur?

THOMAS STILLER:
Ich war einmal Schauspieler, aber das ist eine ganze Weile her. Mit 24 Jahren bin ich nach New York gegangen und habe dort zwei Jahre lang die Schauspielschule besucht. Ungefähr acht Jahre habe ich dann diesen Beruf ausgeübt. Irgendwann ging es mir auf die Nerven, immer nur zu spielen, was andere Leute vorgeben. Das kollidierte mit meinen Stolz. Dazu diese Abhängigkeit: warten, ob etwas kommt. Man fühlt sich klein. Da musste ich etwas ändern. Hinzu kam das Geld: Im ganzen letzten Jahr als Schauspieler habe ich etwa 7.000 D-Mark verdient. Zum Glück hatte ich in dieser Zeit angefangen, nebenbei für RTL Drehbücher zu lektorieren. Das hat die Lust in mir geweckt, selbst etwas zu schreiben. Ein eigenes Drehbuch zu versuchen. Ich schrieb zunächst ein Exposee, ein so genanntes Treatment. Völlig blauäugig habe ich das an 15 Sender verschickt. Das war zu der Zeit noch relativ teuer. Du musstest das ganze Zeug eintüten, frankieren, zur Post bringen. Und dann bekam ich an einem Tag fünf Anrufe. Alle wollten mein Drehbuch haben! Daraufhin habe ich gesagt: Ich schreibe jetzt erst einmal das Skript, und dann gibt es das nur im Paket mit mir als Regisseur. Davor hatte ich für das ZDF schon einen Übungsfilm und dabei alle Anfängerfehler gemacht, aus denen ich gelernt habe. Den wollten die natürlich sehen, aber ich sagte, das käme gar nicht in die Tüte. Ich gehe doch nicht mit meinen Fehlern hausieren! Als das Drehbuch fertig war, sagten die Leute „ja, prima“. Aber als Regisseur wollten sie mich nicht. Na gut, dann gibt es eben das Drehbuch auch nicht. Ich zünde es an und schmeiß es auf den Müll. Drei Sender sagten dann okay, dann gibt’s ein bisschen Geld – und du kannst deinen ersten Film machen. Von da an ging es eigentlich ganz schnell weiter. Es kam auch schnell der Punkt, an dem ich alle meine Filme selbst schreiben musste. Mein erster Film, „Die brennende Schnecke“, war extrem erfolgreich. Der wurde auf zwanzig großen Festivals gezeigt. Trotzdem kam danach kein weiteres Angebot. Nichts. Ich habe dann einfach weiter Drehbücher geschrieben, eine Rennfahrerserie für Sat.1. Die wurde auch gesendet, und ich habe relativ viel Geld verdient. Einen großen Teil davon habe ich in einen Dokumentarfilm über einen recht bekannten japanischen Trompeter gesteckt. Der Film wurde in Japan und im Himalaya gedreht. Meinen zweiten Spielfilm habe ich erst einige Jahre später auf die Reihe gekriegt. Den hat schlussendlich der SWR finanziert. Zuerst wollten sie nicht, das sei nicht ihr Stoff. Aber das hat sie dann doch nicht losgelassen, und dann haben sie ihn gemacht. Der Film hieß „Stille Nacht, heilige Nacht“ und war trotz relativ kleinem Budget sehr prominent besetzt: Barbara Auer, Dominique Horwitz, Christian Berkel, Marek Harloff, Charlotte Schwab – also wirklich gut besetzt. Inzwischen ist das ein Weihnachtsklassiker, der jedes Jahr gezeigt wird, weil er so böse ist. Acht Tote gibt es in dem Film. Ich habe halt so meine Themen: gesellschaftliche Mikrokosmen und Gewalt. Ob das jetzt Familie ist oder Gefängnis – dort kann man sich angucken, wie Gesellschaft im Kleinen funktioniert. Und es zeigt, wie ich die Welt sehe. Ich glaube, das nennt sich „deduktiv“. Mir ist der Begriff etwas fremd. Ich finde es eher induktiv, vom Kleinen aufs Große zu schließen. Ich verbreite keine Moral in meinen Filmen, sondern versuche einfach nur darzustellen, was ich beobachtet habe. Natürlich habe ich selbst eine Moralvorstellung. Aber im Film interessiert mich nur, wie Menschen mit Problemen klarkommen.

„Ich versuche einfach nur darzustellen, was ich beobachtet habe.“

 

CHAPEAU: Noch einmal ganz kurz zurück zu deiner Schauspielschule in New York. Welche ist das gewesen?

THOMAS STILLER:
Das Actors-Studio.

CHAPEAU: Wow! Da denke ich an Lee Strasberg, Marilyn Monroe, James Dean, Al Pacino, Robert de Niro… Dort will jeder hin, der ernsthaft Schauspielerei studieren möchte. Aber nicht jeder wird genommen. Du schon. Fühlte sich das irgendwie magisch an?

THOMAS STILLER:
Das war der Hammer! Ich bin dort über ein deutsches Theaterinstitut hingekommen. Die bezahlten die Aufnahmeprüfung bis zu drei Mal, ich hatte also drei Versuche frei. Die Prüfung ist echt schwer. Ich glaube, Al Pacino hat acht Anläufe gebraucht, bis er genommen wurde. Die Prüferin war Estelle Parsons. Die hatte den Oscar für die beste Nebenrolle in „Bonnie & Clyde“ bekommen und mochte mich irgendwie. So habe ich es dann im dritten Anlauf geschafft. Das Studio war damals in einer alten Kirche in der 44. Straße untergebracht. Sehr schön und sehr beeindruckend! Ich fand auch die Art, sich eine Rolle zu erarbeiten, sehr logisch und sinnvoll. Das nennt sich ja „Method Acting“ und war hier total in Verruf geraten. Leute vom Studio wurden hier als Querulanten und Querdenker gemieden, galten als schwierig und nicht führbar. Völliger Bullshit! Der damalige Leiter Lee Strasberg hat gesagt: „Wunderbar, wenn dir die Mutter Natur alles mitgegeben hat. Wenn aber nicht und du alles dreißig Mal wiederholen musst, dann habe ich etwas für dich, das funktioniert.“

CHAPEAU: Beurteilst du mit dem, was du damals gelernt hast, heute noch die Schauspieler, die du für deine Filme castest?

THOMAS STILLER:
Auf jeden Fall. Mein Steckenpferd ist die Schauspielerei. Da bin ich super hartnäckig und lasse mir nicht in die Besetzung hineinreden. Das ist zwar immer wieder ein Kampf, und man versucht es auch immer wieder. Aber schließlich muss ich mit dem Schauspieler arbeiten. Ich muss ihm vertrauen können und er mir. Ein Schauspieler, den ich nicht mag, hat bei mir keine Chance. Ich bin fest überzeugt, dass es zur Aufgabe eines Regisseurs gehört, zu sagen, wer die Rolle spielen soll. Insbesondere dann, wenn man die Rolle auch noch selbst geschrieben hat. Ja, ich gelte als schwierig. Aber das stört mich nicht. Wenn du eine Vision hast und nicht jeden dabei mitreden lassen willst – gut, dann bist du eben schwierig. Das ist dann halt so. Ich möchte meine Filme machen und am Ende auch als einziger wirklich für das Ergebnis verantwortlich sein.

„Wir wissen, was wir wollen, und wie wir es machen wollen.“

CHAPEAU: Wie muss ich mir das Filmemachen vorstellen? Sollte ich eher an einen Maler denken, der mit unendlich vielen Farben Strich um Strich ein Bild erstellt, oder eher an einen Dirigenten, der mit den vielen Stimmen eines Orchesters das große Ganze spielt?

THOMAS STILLER:
Gute Frage. Ich habe einen eineiigen Zwillingsbruder, der ist Maler. Ein sehr guter Künstler. Aber für mich wäre das nichts. Ich liebe es, mit Menschen zu arbeiten. Insofern kannst du eher an einen Dirigenten denken. Man musst dirigieren und delegieren können. Und da komme ich noch einmal auf deine vorhergehende Frage zurück:
Meine Schauspielerausbildung ist sehr wichtig, heute noch. Als Regisseur musst du echtes Verständnis für die Schauspielerei haben. Nicht jeder Schauspieler erreicht das Ziel auf dem gleichen Weg. Was bei dem einen funktioniert, geht beim anderen überhaupt nicht. Dann musst du den Schauspieler ein bisschen erschrecken, aufwecken. Da wird natürlich auch mal ein bisschen herumgezickt. Dann musst du aufpassen, dass es nicht überhand nimmt und die Stimmung am Set versaut. Als Regisseur baust du für die Schauspieler eine Art Spielplatz, auf dem sie ihr Bestes geben können. Das ist die Hauptaufgabe. Ein bisschen wie ein Animateur. Du kannst nicht alle vollständig kontrollieren, darum ist Vertrauen so wichtig. Ich arbeite seit Jahren mit demselben Kameramann, dem ich blind vertrauen kann, ich habe meine eigenen Tontechniker – also ein Team, in dem keiner dem anderen noch etwas vormachen muss. Wir wissen was wir wollen, wir sprechen kurz darüber und wissen, wie wir es machen wollen.

CHAPEAU: Besteht dann nicht die Gefahr, dass man sich ständig wiederholt?

THOMAS STILLER:
Nein, ich will jeden Film etwas anders aussehen lassen. Bei meinem letzten „Tatort“ sollten es durchlaufend Herbstfarben sein.1) Dann wollte ich Comiceinstellungen haben. Im Moment lese ich sehr viele Comics, weil mich die normalen Bildeinteilungen inzwischen zu Tode langweilen. Für „Tatort“-Maßstäbe haben wir ziemlich extreme Einstellungen gemacht, mit halben Gesichtern und so.

CHAPEAU: Empfindest du deine Arbeit als mühselig, oder ist das künstlerische Wollen und Tun stressfrei?

THOMAS STILLER:
Nein. Stress habe ich keinen. Gut. Um Geld zu sparen, hat man heute immer weniger Drehtage zur Verfügung. Das bringt eine gewisse Anspannung, aber die kommt von außen und nicht aus mir heraus. Bei meinem Gefängnisfilm, der auch auf dem Oldenburg Festival gezeigt wurde, hatten wir nur 22 Drehtage.2) Und dann nicht etwa lange Tage mit 10 Stunden, sondern nur achtstündige. Um 18:30 Uhr mussten wir aus dem Gefängnis verschwunden sein. Bei einem früheren Hamburg-„Tatort“ mussten wir in drei Tagen 200 Einstellungen mit 300 Komparsen drehen – irgendeine Riesen-Ballerei. Dann gucke ich morgens in den Spiegel und denke, huch, das war doch gestern noch nicht da. Da habe ich mir aufgrund des ganzen Drucks eine Gürtelrose eingefangen.

CHAPEAU: Hast du eine Erklärung für die ungeheure Bedeutung des „Tatort“ für das deutsche Publikum? Sogar wenn ich mich für Fernsehen überhaupt nicht interessiere – um den „Tatort“ komme ich beim Lesen der Tagespresse nicht herum…

THOMAS STILLER:
Vor ein paar Jahren habe ich mir einmal den Mund verbrannt, als ich über den „Tatort“ abgelästert habe, aber der hat für mich absolut seine Berechtigung. Ich drehe ja auch nach wie vor welche. Schade finde ich nur diese Schwemme an Krimis. Die meisten davon leiden auch noch unter einer völlig unreflektierten Obrigkeitshörigkeit. Da habe ich manchmal das Gefühl, wir machen hier Werbefilme für die Polizei. Die Skandinavier machen mit der „Brücke“3), die Engländer mit „Luther“4) geile Formate. Mit spannenden Figuren, die dich interessieren. Auch die lösen Fälle, sind aber irgendwie eckig dabei. Bei uns sind die Figuren meistens völlig austauschbar. Der eine ist etwas dicker, der andere etwas dünner, aber alles läuft nach demselben Prinzip. Man weiß – jedenfalls ich als Insider – dass der teuerste Schauspieler am Set immer der Mörder ist. Das war’s dann auch schon. Aber ich will nicht schimpfen, ich verdiene ja damit mein Geld. Und es gibt offensichtlich genug Menschen, die sich dafür interessieren. Problematisch ist nicht der „Tatort“, sondern sind die 150 anderen, ähnlichen Formate. Es heißt immer: wir haben kein Geld. Dabei ist genug Geld da, um auch einfach mal etwas anderes, etwas Spannenderes zu machen. Es ist total schwierig geworden, mal ein anspruchsvolles Fernsehspiel zu machen. Der Mittwochs-Platz wird auch immer weiter aufgeweicht. Früher erwarteten dich da seriöse und anspruchsvolle Fernsehfilme. Das wird immer weniger.

CHAPEAU: Bekommst du Vorgaben für die Drehbücher, oder entscheidest du selbst, was interessant und reizvoll ist?

THOMAS STILLER:
Nein. Ich bin jemand, der fast alles selber macht. Leider. Ich mache aus der Not eine Tugend, einfach weil mir nichts angeboten wird. Wahrscheinlich denken die, der Stiller schreibt eh nur seine eigenen Sachen. Das mache ich aber nur, weil ich keine guten Sujets angeboten bekomme. Und wenn doch etwas kommt, muss ich feststellen, das bin ich nicht. Ich habe einfach keinen Bock auf ein 45-minütiges Krimi-Format. Dabei geht es nicht um die Zeit. Ich hätte überhaupt kein Problem damit, eine Serie zu machen, und allmählich tut sich auf dem Gebiet ja auch etwas auf. Aber selbst bei neuen Formaten geht es schon ungerecht zu. Da holt man jetzt zunehmend Kino-Regisseure, die im Kino nun nicht unbedingt sehr erfolgreich sind. Dennoch ist „Kino-Regisseur“ offensichtlich so etwas wie ein Adelstitel. Kurz gesagt: Es ist alles etwas mühsam. Wir kämpfen seit Jahren für ein besseres Fernsehprogramm, und dann gehen die Redakteure daher, holen sich so eine Art Aushängeschildchen, damit sie Presse kriegen, und alle denken: So ist es gut, so ist es besser. Bullshit!

CHAPEAU: So eine Art Netflix-Virus? Wir holen uns jetzt auch die großen Namen…

THOMAS STILLER:
Aber so macht Netflix das ja gar nicht. Die sind sehr viel offener und wagemutiger. Die ganzen guten Serien sind dort nicht mit großen Namen besetzt worden. Trotzdem: super Schauspieler! Darin liegt das Geheimnis von jungen Schauspielern mit unverbrauchten Gesichtern: Die Namen werden erst durch die tolle Serie bekannt. „You Are Wanted“ 5) fand ich dagegen so bizarr. Da nimmt man einen Teeniestar und setzt den in eine solche Serie. Die ist ja gut erzählt, missachtet aber das Prinzip einer guten horizontal erzählten Serie. Das Problem mit sehr bekannten Schauspielern ist ja: Die Leute sehen in dem Film oder der Serie gar nicht mehr die Figur, sondern den Star.

CHAPEAU: Bei mir erzeugt ein gutes Buch einen Sog, dem ich mich nicht entziehen kann. Du schreibst sehr gute Drehbücher und deinen Filmen sagt man nach, auch eine Art Sog zu erzeugen. Hast du mal darüber nachgedacht, ein Buch zu schreiben, dich also an Belletristik zu versuchen?

THOMAS STILLER:
Nein. Aber ich würde hier in Deutschland gerne eine Literaturverfilmung machen. Doch da kommt nichts. Es gibt in diesem Land einfach kein traditionelles Erzählkino. Nur Sozialpornos und Komödien. Das klingt ketzerisch, trifft es aber. Dann gibt es noch diese selbsterklärten Künstler, die von der Branche gefeiert werden, aber keine Zuschauer haben. Natürlich liegt das dann am Zuschauer, der zu blöd ist, diese „Meisterwerke“ zu verstehen… Alle schimpfen auf Schweiger und Co. Ich sage: Nee, lasst den doch in Ruhe! Der dreht Film um Film, macht die Kinos und die Kassen voll. Ohne den wäre das deutsche Kino komplett am Arsch. Was er macht, ist auch nicht meine Art Kino, aber darum geht es gar nicht. Es geht um Respekt. Und vor der Leistung von Til Schweiger habe ich Respekt. In Deutschland ist das Wort Unterhaltung so etwas wie ein Schimpfwort. Das muss nicht sein. Man kann auch anspruchsvolle Filme machen, die dennoch unterhaltsam sind. Wer will denn immer frustriert nach Hause gehen? Und nach einem Sozialporno gehe ich frustriert nach Hause. Erst immer diese Probleme anderer Leute… und dann ein schönes Glas Rotwein trinken gehen. Nein, das ist nicht meine Art Kino. Die Franzosen können gute Filme machen, die Engländer und die Italiener können es – wir können es nicht. Auch die Amerikaner haben es etwas verlernt. Die sind im Moment zu sehr mit ihren Superhelden beschäftigt.

CHAPEAU: Aber dafür haben sie ja Netflix und HBO…

THOMAS STILLER:
Genau, das gleicht das etwas aus. Ich gebe dir recht: eine gute Serie ist wie ein guter Roman. Du hast Zeit, eine Figur ganz langsam zu entwickeln, wie Dostojewski oder Tolstoi in ihren Romanen. Ich finde „Peaky Blinders“ so großartig! 6)

CHAPEAU: Ich auch! Und ich liebe Cillian Murphy…

THOMAS STILLER:
Klar, der ist super. Es macht einfach Spaß, zuzusehen und der Geschichte zu folgen.

CHAPEAU: Wenn du einen Film schreiben und dabei an Cillian Murphy denken würdest, könntest du den bekommen?

THOMAS STILLER:
Ich hatte einen ähnlichen Fall: ich wollte einen Film über Anita Berber drehen, dieser Lebe-Dame aus dem Berlin der zwanziger Jahre.7) Zu ihren Hochzeiten war die so berühmt wie heute Madonna. Und für die Besetzung dachte ich an Kristen Stewart.8) Ich habe ihr geschrieben, das Drehbuch geschickt – und noch nicht einmal eine Antwort erhalten. Nein, da brauchst du besondere Beziehungen oder ganz, ganz, ganz viel Geld. Beides habe ich nicht. Als Top-Regisseur mit Riesen-Erfolgen im Rücken kannst du natürlich besser an Stars herankommen als mit irgendwelchen Fernsehfilmen. Das gehört auch zur Wahrheit. Aber meinen Anita-Berber-Film gebe ich noch lange nicht auf. Die Buchvorlage ist gut, das Drehbuch habe ich 15 Jahre später geschrieben und ist mittlerweile auch fertig.

CHAPEAU: Wie bist du auf Anita Berber gekommen?

THOMAS STILLER:
Über meinen Freund, Marc Conrad, der früher RTL-Chef war. Wir sind total verschieden, aber wir lieben beide gute Filme. Außerdem lieben wir Hunde – und George Simenon.9) Der hat zwar nur sehr dünne Romane geschrieben, aber alle sind wunderbar. Wie eine Essenz! Der arbeitete so ähnlich wie ich: sieben Tage für ein Buch, die aber am Stück. Und genau so schreibe ich auch meine Drehbücher. In sieben bis zehn Tagen, ohne Unterbrechung. Wenn ich da einmal rauskomme, reißt der Faden. Den ersten Maigret hat Simeon in fünf Tagen geschrieben. Ich bin auch so: Wenn ich nicht in den ersten Tagen 90 Prozent meiner Geschichte geschrieben habe, kann ich sie eigentlich vergessen. Dann habe ich ein Problem, und das wird mich weiter begleiten. Also kann ich es gleich ganz lassen. Entweder hast du etwas zu erzählen, oder eben nicht. Das Wort „Schreibblockade“ ist doch eine Erfindung, die besser klingt als: Ich weiß nicht mehr weiter. Schreibblockade heißt: Ich habe keine Phantasie mehr. Naja, mein Freund Marc kam also mit Anita Berber auf mich zu. Ich habe mich mit ihr beschäftigt, und glaube, neben Lothar Fischer der größte lebende Berber-Experte zu sein. Fischer hat ein schönes Buch geschrieben: über ihre drei Männer, ihre kurze Karriere.10) Sie ist ja schon 1928 gestorben. Das Buch konzentriert sich auf die letzten zehn Jahre, die zehn Jahre ihres größten Erfolgs. Bei einem Film über so eine Frau musst du dich ja auf etwas konzentrieren. Wenn du zu viel reinpackst, entgleist er. Das war zum Beispiel bei dem Film „La vie en rose“ so.11) Damit kann ich nichts anfangen. Auch wie Edith Piaf dargestellt war, sagt mir nichts. Obwohl ich die Schauspielerin liebe! Irgendwie kam die Piaf so gestört rüber…

CHAPEAU: Mich nerven Filme, die in elenden Milieus spielen oder aber geradewegs ins Elend führen. „Trainspotting“ war darum aus meiner Sicht nur elender Mist. 12)

THOMAS STILLER:
(Lacht.) Ja, im Kino möchte man sehen, dass es die Leute irgendwie schaffen oder schaffen könnten. Da muss irgendwann eine Tür aufgehen, durch die sie hin zu etwas Besserem gehen könnten.. „Trainspotting“ fand ich auch ganz schlimm. Mich störte auch, wie Heroinabhängigkeit glorifiziert wird.

CHAPEAU: Du hast am Anfang erwähnt, dass dich das Thema Gewalt besonders fasziniert. Welche Art von Gewalt meinst du – und warum?

THOMAS STILLER:
Zunächst einmal: Im wirklichen Leben finde ich Gewalt, gleich welcher Art einfach, nur gruselig. In meinen Filmen hingegen habe ich eine Menge Leute umgebracht. Schon in „Stille Nacht, Heilige Nacht“ waren es acht Tote durch Kopf- und Halsschüsse. Vielleicht liegt es daran, das Leben und Tod die großen zwei Pole sind. Dadurch bekommt der vorzeitige Tod durch Gewalt eine besondere Dimension. Wenn du so willst, ist es eben diese Gewalt, die mich fasziniert: der Weg vom Leben zum Tod.

CHAPEAU: Stell dazwischen noch den Sex, dann hast du alles, was Menschen interessiert. Spielt auch eine Rolle, dass sich jeder von uns vorstellen kann, wie man einen Menschen umbringt? Bietet uns die Darstellung von Gewalt eine Projektionsfläche?

THOMAS STILLER:
In Deutschland ist völlig untergegangen, dass es in den Niederlanden diese wunderbare Serie gibt: „Godless“.13) Daraus haben wir für RTL eine deutsche Version gemacht – drei Folgen, die „Gottlos“ hießen.14) In jeder Folge wurde erzählt, wie Menschen zu Mördern werden. Viele meinen ja, das könnte mir nie passieren. Stimmt aber nicht. Jede Folge endete mit der Tat. Im Prinzip beginnt ein „Tatort“ dort, wo wir mit „Gottlos“ aufgehört haben. Während der Sendung wusste man nie, wer wen am Ende umbringen wird. Das war ein super Format! Es beruhte auf wahren Fällen, die wir natürlich etwas abändern mussten. Ich habe mich für die Fälle entschieden, die aus interessanten Motiven entstanden waren. Leidenschaft, zum Beispiel. Da gab es ein Mädchen, das mit 250 Messerstichen auf seinen Typen eingestochen hat. Wahnsinn! Mit seinem Blut hat sie an die Wand geschrieben: „Nie mehr vergewaltigt mich irgend jemand!“ Diese Geschichte habe ich ins Rockermilieu verlegt. In Wirklichkeit waren es Neonazis, aber das Milieu fand ich nicht so cool. Die Reihe ist von der Presse komplett ignoriert worden. Über RTL kann ich mich nicht beschweren, die haben mir in jeder Hinsicht komplett freie Hand gelassen. Wir hatten ganz wenig Geld, haben jede Folge in sieben Tagen abgedreht, und alle haben voll mitgemacht. Genau mein Thema, aber mal unter anderem Blickwinkel.

CHAPEAU: Was wünschst du dir für die Zukunft, wenn du auf bisherige Karriere schaust: mehr Erfolg, mehr Internationalität?

THOMAS STILLER:
Auf jeden Fall! Ich kenne auch niemanden, der darauf mit „nein“ antworten würde. Ich habe zum Beispiel immer noch das Gefühl, ganz am Anfang zu stehen. Ich weiß, das ist nicht richtig – aber so fühlt es sich an. Obwohl alle meine Filme erfolgreich waren, ist es für mich nicht einfacher geworden. Leute, die mittelmäßige Filme machen, drehen viel mehr als ich. Weil die pflegeleicht sind – und ich schwierig bin.

CHAPEAU: Ich verstehe das gar nicht. Vor dem Gespräch mit dir hieß es auch: Pass auf, der ist schwierig. Finde ich überhaupt nicht!

THOMAS STILLER:
Eigentlich interessiert mich das auch nicht. Ich will niemandem etwas Böses, aber vielleicht ist das für manche Leute auch ein Vehikel, um sich selbst etwas größer erscheinen zu lassen. Nach dem Motto: Schaut her, ich habe es mit dem Stiller geschafft!

„Kino-Regisseur ist offenbar so etwas wie ein Adelstitel.“

CHAPEAU: Du bist aus Wiesbaden nach Berlin gezogen…

THOMAS STILLER:
In Wiesbaden wurde ich nur geboren. Groß geworden bin ich in Bochum, weil mein Vater dort bei Opel gearbeitet hat.

CHAPEAU: Ich bin auch in Bochum groß geworden. Und vom hinteren Balkon konnte ich das Opel-Werk sehen…

THOMAS STILLER:
Mein Vater hat mich noch nicht einmal in die Nähe des Werkes gelassen. Ich hatte damals lange Haare, und mein Vater hat sich für mich geschämt.

CHAPEAU: Bietet dir Berlin mit seiner Anonymität Schutz, oder ist es für dich eher eine Art Brennglas?

THOMAS STILLER:
Ich liebe große Städte! Ich habe in New York gelebt, und Berlin ist dem irgendwie ähnlich. Ich lebe schön in Schöneberg, habe dort meine Ruhe. Aber wenn ich will, kann ich es jederzeit anders haben. Das ist es, was mir dort gefällt.

CHAPEAU: Danke dir. Und weiterhin viel Erfolg.

Anmerkungen

1) Gemeint ist die Kölner Tatort-Folge „Bombengeschäft“ aus diesem Jahr, die kürzlich beim Oldenburg Filmfest ihre Vorab-Premiere feierte.

2) Der TV-Thriller „Angst in meinem Kopf“ mit Claudia Michelsen, Ralph Herford und Charly Hübner wurde nach der Premiere beim Oldenburg Filmfest dann am 10. Oktober im Ersten ausgestrahlt.

3) „Die Brücke – Transit in den Tod“ ist eine schwedisch-dänische Kriminalreihe, die seit 2011 unter Beteiligung des ZDF produziert wird. Die aktuelle vierte Staffel lief kürzlich im ZDF.

4) „Luther“ ist eine britische Krimireihe um den Detective John Luther, die seit 2010 produziert wird. Die vierte und bislang letzte Staffel wurde in Deutschland 2016 ausgestrahlt.

5) „You Are Wanted“ ist eine deutsche Amazon-Originalserie aus dem Jahr 2017, mit Matthias Schweighöfer, Alexandra Maria Lara, Catrin Striebeck und vielen anderen.

6) „Peaky Blinders“ ist eine britische Serie um eine Gangsterfamilie im Birmingham des Jahres 1919. Die Hauptrolle spielt der gebürtige Ire Cillian Murphy. Die erste Folge wurde 2013 produziert, die fünfte Staffel startet 2019 bei BBC Two und wird in Deutschland dann bei Netflix zu sehen sein.

7) Anita Berber (1899-1928) war eine deutsche Tänzerin und Schauspielerin, die sich mit dem Image einer verruchten femme fatale umgab und im Berlin der frühen zwanziger Jahre für einen Skandal sorgte, als sie ihren Mann verließ und mit einer Freundin eine offen lesbische Beziehung einging.

8) Kristen Stewart (geboren 1990) ist eine amerikanische Filmschauspielerin, die als Teenager mit der „Twilight“-Filmserie bekannt wurde und derzeit für eine Neuverfilmung von „Charlies Angels“ vor der Kamera steht, unter anderem in Hamburg.

9) Der belgische Schriftsteller Georges Simenon (1903-1989) ist berühmt für seine Figur des Pariser Kommissars Maigret, dem er zwischen 1931 und 1972 insgesamt 75 Kriminalromane widmete.

10) Lothar Fischer: „Anita Berber. Tanz zwischen Rausch und Tod“ (1984, 3. und verbesserte Auflage 1996) und „Anita Berber. Göttin der Nacht“ (2006).

11) Der französische Spielfilm „La vie en rose“ aus dem Jahr 2007 erzählt mit Marion Cotillard in der Hauptrolle das Leben der Chanson-Sängerin Edith Piaf (1915-1963) nach.

12) Der britische Film „Trainspotting“ aus dem Jahr 1996 beruht auf dem drei Jahre zuvor erschienenen Buch von Irvine Welsh und spielt in der Drogenszene Edinburghs.

13) Originaltitel: „Van God los“. In bislang vier Staffeln mit insgesamt 22 Folgen seit 2011 geht die niederländische Thriller-Serie der Frage nach, was einen Menschen dazu treibt, einen anderen umzubringen – und was einen zum Opfer werden lässt.

14) „Gottlos –Warum Menschen töten“ ist eine von RTL produzierte dreiteilige Miniserie, die in jeder Folge die Entstehungsgeschichte eines Mordes erzählt. Die Ausstrahlung erfolgte im Februar 2015 bei RTL II.

Kategorie: Lebensart
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