Lebensart „Unser Umgang hat deutlich Luft nach oben“
„Unser Umgang hat deutlich Luft nach oben“
Interview mit Tim Niedernolte
Interview mit Tim Niedernolte
ZDF-Moderator Tim Niedernolte beschäftigt sich mittlerweile auch als Buchautor mit den Auswirkungen unserer modernen Gesellschaft auf die menschlichen Beziehungen. In seinem neuen Buch „Respekt! Die Kraft die alles verändert – auch mich selbst“ versucht er Wege zu einem besseren Miteinander aufzuspüren. CHAPEAU traf ihn in Berlin.
Info – Tim Niedernolte ist 1978 im nordhrein-westfälischen Bünde geboren und begann seine Fernsehkarriere vor zwanzig Jahren beim MDR. Bekannt wurde er als Sportmoderator bei Premiere (später: Sky) und Sport1. Seit 2014 gehört er zum Moderatorenteam der „heute“-Nachrichten im ZDF. Ebenfalls im ZDF moderiert er die Sendungen „Hallo Deutschland“ und „Drehscheibe“. Seinem ersten Buch „Wunderwaffe Wertschätzung“ (2018) lässt er jetzt die gesellschaftliche Bestandsaufnahme „Respekt!: Die Kraft, die alles verändert – auch mich selbst“ folgen.
Tim Niedernolte
CHAPEAU – Dein Buch „Respekt!“ ist ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr gegenseitige Achtung. Woran fehlt es derzeit am meisten?
Tim Niedernolte – Leider genau daran. Es fehlt die gegenseitige Achtung. Und zwar in fast allen Bereichen unseres Lebens: Von privat bis beruflich, gesamtgesellschaftlich oder in Politik und Sport ist einfach zu viel Ellenbogen-Einsatz im Spiel – anstelle eines Blicks nach rechts und links. Vordrängeln? Geschenkt. Über andere lästern? Normal. Mein eigener Vorteil? Ja klar, immerhin bin ich mir selbst der Nächste. Dieses Verhalten hat zu extremen gesellschaftlichen Schieflagen geführt. Wir kommen aber nachweislich alle besser und auch schneller voran, wenn wir eben nicht nur an uns denken, sondern auch den Nächsten oder die Nächste im Blick behalten.
Hast du ein Beispiel?
Nehmen wir das berühmt berüchtigte Reißverschlussverfahren im Straßenverkehr. Stauforscher und Verkehrsexperten belegen immer wieder durch Studien, dass alle im Stau schneller vorankommen, wenn man sich gegenseitig einscheren lässt. Dem Nebenmann oder der Nebenfrau auch den Vortritt lässt, wenn er oder sie noch unmittelbar bis zu dem Nadelöhr an einem vorbei gezogen ist. Das kriegen wir aber einfach nicht hin. Wollen wir nicht. Und so bremst unser Stolz letztlich alle aus. Nicht nur im Stau oder vor einer Baustelle.
Meinst du, dass die Menschen früher besser miteinander umgegangen sind?
Puh, schwierige Frage. Vordergründig ja, auf jeden Fall. Dennoch gehöre ich nicht zu den Menschen, die immer sofort und pauschal „Früher war alles besser“ skandieren. Ich möchte schon genauer hinschauen und differenzieren. Das hat übrigens auch etwas mit Respekt zu tun. Gab es früher wirklich so viel weniger „Hatespeech“? Oder lief das vor Social Media & Co. ebenso heftig ab – nur eben offline und gern am viel zitierten Stammtisch?
„Ich gehöre nicht zu den Menschen, die immer sofort „Früher war alles besser“ skandieren.“
Aber die Verrohung ist heute doch deutlich stärker zu spüren?
Ich glaube, es sind unter anderem die neuen Verbreitungswege, die für die gefühlte Zunahme verantwortlich sind. Gepaart mit der Anonymität des Internets. Ohne seine Deckung aufzugeben, kann man aus der Ferne viel bequemer und vehementer draufhauen. Ist es also heute schlimmer? Im Umgang mit verschiedenen Berufsgruppen wie Rettungskräften oder auch Polizisten ist es definitiv so. Da ist der Ton nachweislich schlechter geworden. Egal ob es um das Bepöbeln, ja sogar Attackieren von Rettungskräften geht oder um die Ignoranz, partout keine Rettungsgasse bilden zu wollen. Das ist unfassbar. Und so kann man durchaus weitere Bereiche durchgehen: Wie sieht es auf dem Fußballplatz aus, mit der Gewalt gegen Schiedsrichter in den Amateurligen? Wie in der Politik, wie in der Familie? Unabhängig vom Vergleich mit der Vergangenheit: Unser Umgang miteinander hat deutlich Luft nach oben.
Ist das auch ein Problem von Erziehung, und hat die Idee der antiautoritären Erziehung in den späten 60ern möglicherweise sogar den Grundstein gelegt?
Die Erziehung spielt in der Entwicklung von uns Menschen auf jeden Fall eine große Rolle, ganz klar. Aber das darf nicht pauschalisiert werden. Der Grund, warum die antiautoritäre Erziehung gerade in den sechziger Jahren so boomte, hatte ja eine Vorgeschichte. Und zwar einen krass autoritären und aus heutiger Perspektive nicht sehr respektvollen Erziehungsstil mit Verboten, Schlägen und Strafen. Doch egal welche Art von Erziehung du als Mama oder Papa fährst: Du kannst immer auf der einen oder der anderen Seite vom Pferd fallen. Was Eltern und Angehörige vorleben, prägt. Das legt die Basis für die Zukunft. Und da ist es auch egal, ob 60er-Jahre-Erziehungsstil oder die 2020er-Version: Wo Respekt, Nächstenliebe, gegenseitige Achtung und Wertschätzung vorgelebt werden und die Grundlage von Erziehung bilden, werden die Kinder das auch mitnehmen. Unter Garantie!
Welche Rolle spielt die neoliberale Ideologie mit ihrer Idee, dass nur die Besten überleben?
Um den Neoliberalismus zufriedenstellend in Beziehung zum Statement von Darwins Evolutionstheorie und dann noch zum heutigen Miteinander in unserer Gesellschaft zu setzen, müsste ich auf jeden Fall ein neues Buch schreiben (lacht). Oder erst einmal prüfen, ob das überhaupt so einfach vermischt werden kann. Aber zum ́survival of the fittest ́ kann ich etwas sagen. Das triggert mich direkt, und da brauche ich noch nicht einmal den Vergleich zum Tierreich bemühen. Grundsätzlich gehören alle Lebewesen auf der Erde zu den „Fittesten“, denn wir haben uns als kleine Samen gegen Millionen von anderen durch- gesetzt. Da braucht mir niemand erzählen, dass irgendjemand stärker ist als andere, bloß weil er oder sie in einem reicheren Land geboren, in einer einflussreicheren Familie oder mit einem gesünderen Körper gesegnet ist. Das ist Bullshit!
Wirtschaft und Politik predigen seit Jahren das Wort von der Eigenverantwortung. Wo bleibt der Platz für die Verantwortung füreinander?
Das gehört für mich zusammen. Die Definition von Eigenverantwortung lautet ja, „Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen“. Also nicht nur zu fragen, welche Konsequenzen das eigene Verhalten für mich hat, sondern: Welche Konsequenzen hat mein Verhalten für mich und für meine Mitmenschen? Nehmen wir als Beispiel die Mund-Nasen-Maske im Bus oder in der U-Bahn. Was kann passieren, wenn ich dort keine Maske trage? Selbst wenn mir das egal ist, könnte ich anderen schaden. Das bedeutet aber nicht, dass die Politik die Verantwortung damit komplett auf die Bevölkerung übertragen kann. Politik muss immer wieder neue kluge und bestmögliche Rahmenbedingungen schaffen. Ohne die geht es nicht. Eigenverantwortung und Rahmenbedingungen Hand in Hand arbeiten, sich ergänzen, dann kann es klappen.
„Politik muss immer wieder neue kluge und bestmögliche Rahmenbedingungen schaffen.“
Du beziehst in dem Buch Stellung zur mangelnden Wertschätzung für viele Berufe, die bislang nicht immer als „system-relevant“ wahrgenommen wurden. Kann die Corona-Krise dazu beitragen, die Achtung für die Beschäftigten in Pflegeberufen nachhaltig zu stärken?
Das hoffe ich sehr. Die aktuelle Pandemie funktioniert ja in vielen Bereichen wie eine Lupe. Sie vergrößert die Schwachstellen und Ungerechtigkeiten unseres Systems. Das bringt Aufmerksamkeit, und das ist gut so. Aber dabei darf es nicht bleiben. Von Standing Ovations und Applaus auf den Balkonen allein können die Pflegekräften nicht ihre Miete zahlen. Um daran etwas zu ändern, bedarf es der Bereitschaft von uns allen. Es geht darum, sich aktiv dafür einzusetzen, wenn es um Lohnerhöhungen in Gesundheitsberufen geht – und nicht nur immer auf „Die da oben“ zu schimpfen. Das gehört auch zur Eigenverantwortung. Wer wie wir in einem Land mit einem – trotz aller Schwachstellen – großartigen Gesundheitssystem lebt, dem sollte das auch etwas wert sein. Und nicht erst dann, wenn man selbst von Krankheit betroffen ist.
Wie viel sollte eine Pflegekraft deiner Meinung nach verdienen?
Eine Krankenschwester sollte nicht noch am Wochenende kellnern gehen müssen, um ihre Kinder durchzukriegen. Und wenn ich lese, dass in manchen Städten mit höheren Lebenshaltungskosten auch Polizisten mit Nebenjobs etwas dazu verdienen müssen, dann passt da etwas ganz gewaltig nicht. In unserer Kita in Berlin sind mehrere Stellen un- besetzt. Es finden sich einfach keine Erzieher. Es gibt einfach zu wenige Erzieher. Es fehlt der Nachwuchs, obwohl viele den Job gern machen würden und die Leidenschaft dazu haben. Nur eben nicht zu den Bedingungen, nicht zu der Bezahlung. Das tut mir weh, denn dieser Beruf ist so elementar. Auch bei den Kleinsten gilt der Satz: „Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung: keine Bildung.“
„Die Pandemie vergrößert wie eine Lupe die Schwachstellen und Ungerechtigkeiten unseres Systems.“
Momentan scheint sich das Thema Wertschätzung ja geradewegs auf dramatische Weise in die falsche Richtung zu entwickeln: Personal in öffentlichen Verkehrsmitteln wird beschimpft, angegriffen. Rettungskräfte werden im Einsatz behindert. In den USA werden sogar Pflegekräfte und Ärzte attackiert. Welcher Frust entlädt sich da?
Da brauchen wir gar nicht in die USA zu gucken, das gibt’s hier auch. Für mein neues Buch habe ich mich unter anderem mit einem Feuerwehrmann getroffen, der aus seinen Erfahrungen im Rettungsdienst in einer Kreisstadt mit knapp 50.000 Einwohnern berichtet. Auch er hat schon Gewalt erlebt, wurde in einem Einsatz sogar mal verletzt. Er sagt: Den früher selbstverständlichen Respekt vor der Uniform oder der Dienstkleidung gibt es heute nicht mehr. Ich habe bin darüber auch mit einem sehr netten Sanitäter eines Rettungswagens ins Gespräch gekommen. Er ist erst seit fünf Jahren dabei und kann keine Zunahme der Aggressionen feststellen. „Das war schon immer so, ich kenne das gar nicht anders“, hat er mir erzählt. Das sagt doch alles, oder? .
Hast du eine Idee, wie man diesen Entwicklungen entgegensteuern kann?
Zu allererst: aufklären. Den Finger in die Wunde legen und darüber berichten, die Probleme öffentlich machen. Dieses Interview trägt ganz sicher seinen Teil dazu bei, mein Buch hoffentlich auch. Es wird sich nur etwas ändern, wenn wir uns bewusst machen, dass auch wir etwas ändern müssen. Außerdem glaube ich, dass wieder mehr Respekt-Geschichten erzählt werden müssen. Positive Beispiele und Berichte von Menschen, die anders leben. Die gibt es nämlich auch, sehr viele sogar. Und die müssen wir hören, um wieder neu zu lernen: Ach guck ́mal, es geht ja auch anders!
Du bist von Haus aus Fernsehmoderator. Welche Rolle spielen die Medien in dieser Entwicklung?
Die Medien haben ganz sicher ihren Anteil daran. Wenn reißerische Schlagzeilen raus- gehauen werden, die teilweise tief unter die Gürtellinie gehen, nur damit sich eine Story besser verkauft, dann ist das nicht respektvoll und bedient die negative Tendenz. Es geht nicht, wenn nur oberflächlich recherchiert wird oder Zwischentöne ausgelassen werden, weil sie zu komplex erscheinen. Passiert aber immer wieder. Da nehme ich die Mediennutzer in die Pflicht. Auf der anderen Seite muss von den Nutzern die Pflicht wahrgenommen werden, sich zu informieren. Auch das gehört zur Eigenverantwortung. Nur die Schlagzeilen lesen und dann meinen, man kenne die ganze Geschichte, reicht nicht. Man muss sich auch mal die Mühe machen, komplexe Sachverhalte verstehen zu wollen. Dazu muss man auch verschiedene Medien nutzen und darf nicht nur den vorsortierten Meldungen des eigenen Algorithmus vertrauen.
„Es müssen auch wieder mehr Respekt-Geschichten erzählt werden.“
Welche Rolle kommt bei der Medienerziehung der Schule zu?
Hoffentlich eine große, ohne die Schule damit überfrachten und überfordern zu wollen. Oftmals kann Schule, können Lehrer und Erzieher ja gar nicht all das leisten, was erwartet und gefordert wird – und was zum Teil im Elternhaus und im privaten Umfeld passieren müsste. Wie wäre es, wenn Schule in erster Linie wieder der Ort ist, wo Kinder und Jugendliche so angenommen werden wie sie sind? Auf Augenhöhe. Automatisch für gut befunden und nicht bewertet. Wertgeschätzt, respektiert und akzeptiert als wunderbare junge Menschen mit ganz viel Potenzial. Davon träume ich. Und dann würden sich viele wundern, was alles möglich ist und was die Kids zu leisten im Stande sind. In meinem neuen Buch berichte ich über die Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm. Wer deren Geschichte mal googelt, bekommt eine Ahnung davon, was gelebte Wertschätzung im Schulalltag alles freisetzen kann.
Früher hat man ja vor allem älteren Leuten eine gewisse Verbissenheit im Umgang mit anderen Menschen zugesprochen. Mittlerweile scheint sich ja durch alle Altersgruppen eine gewisse Engstirnigkeit zu ziehen. Eine Folge des Internets?
Ganz sicher auch. Algorithmen befeuern geradezu Engstirnigkeit. Der Algorithmus in den sozialen Medien basiert auf unserem jeweiligen Nutzungsverhalten, wertet aus, was wir liken, was uns interessiert, wem wir folgen, und bestimmt die Auswahl, welche Nachrichten und Meldungen uns angezeigt werden. Dadurch sind die Inhalte weder ausgewogen noch, ja, sagen wir „generationenübergreifend“, um im Bild zu bleiben. Und so werden vor allem die Vorlieben und Interessen des Nutzers bestärkt. Da spricht man von einer so genannten Filterblase. Darin gibt es wenig Platz für andere Meinungen, Sichtweisen, Altersgruppen.
„Wenn unsere Gesellschaft etwas braucht, dann sind das unbequeme Menschen, die unbequeme Fragen stellen.“
In deinem ersten Buch „Wunderwaffe Wertschätzung“ sprichst du vom „großen Glück einer einfachen Lebenshaltung“. Wie einfach kann eine Lebensführung sein, die sich zunehmend auf digitale Technik stützt?
Na ja, die digitale Lebensführung macht ja vieles auch tatsächlich sehr viel einfacher. Das Internet ist ja auch Segen, nicht nur Fluch, das sollte man nicht vergessen. Ich kann in Echtzeit meine Züge buchen oder den Busfahrplan sehen, Essen online ordern, für Hilfsprojekte spenden, Videocalls mit Verwandten auf der anderen Seite der Erde führen. Wahnsinn, was uns das alles bringt. Auch zueinander bringt. Deshalb schließt das Eine nicht das Andere aus. Wenn Wertschätzung und auch Respekt mein Handeln und mein Denken bestimmen, ist es egal, ob ich online oder offline bin.
Was wünschst du dir von der „Generation Greta“?
Dass sie genau so weiter machen wie bisher. Wenn unsere Gesellschaft etwas braucht, dann sind das unbequeme Menschen, die unbequeme Fragen stellen. Die uns immer wieder darauf hinweisen, dass dieser Planet nicht für uns allein da ist, sondern auch den nachfolgenden Generationen gehört. Es soll stören, was Greta und Luisa Neubauer & Co. einfordern. Wir brauchen störende Elemente, damit wir ins Nachdenken kommen und hoffentlich auch etwas ändern. Wenn das dann trotz unterschiedlicher, aufeinander prallender Interessen noch auf allen Seiten mit dem nötigen gegenseitigen Respekt passiert, dann sitzt Greta am Ende ihres aktiven Lebens hoffentlich glücklich und erfüllt in ihrem Schaukelstuhl, guckt in einen grünen Garten und hat dieses tiefe innere Gefühl der Zufriedenheit: Ja, es war alles gut und richtig so damals.
Tim Niedernolte
Respekt!
Die Kraft, die alles verändert – auch mich selbst
Hardcover
ca. 192 Seiten
ISBN 978-3-96340-132-9 €
e Book 978-3-96340-133-6
18,– €
ab 1. Oktober 2020